Wilhelm Kempff, den die FAZ einmal als den “Luftgeist Beethovens” bezeichnete, sagte über den Meister der Wiener Klassik: “Man sollte selbst ein – wenn auch bescheidener – Komponist sein, um den Schöpferatem dieses Großen zu spüren. Aber man sollte auch ein Herz haben. Denn über allem sollten die Worte stehen, die Beethoven mit Bleistift auf die Partitur seiner Missa solemnis geschrieben hat: ‘Von Herzen – möge es wieder – zu Herzen gehn!’” Und damit hat er auch eine vortreffliche Selbstbeschreibung geliefert.
Zauber des Augenblicks
Schon als Kind entwickelte der 1895 im brandenburgischen Jüterbog geborene Spross einer Musikerfamilie – bereits Großvater und Vater waren Organisten – den Wunsch, Komponist zu werden. Und tatsächlich wurden einige seiner zahlreichen Kompositionen von Größen wie Wilhelm Furtwängler und Georg Kulenkampff uraufgeführt. Im Zuge des (musikalischen) Neubeginns nach 1945 stieß der Komponist Kempff jedoch bei den Verlegern auf Desinteresse, denn der Geist der Avantgarde bestimmte nun das Musikleben im Nachkriegsdeutschland.
Die Einsichten des Komponisten verbanden sich mit einer meisterhaften Klaviertechnik und seinem phänomenalen Gedächtnis jedoch zu einem unverwechselbaren pianistischen Profil, dem ein souveräner und auf der Bühne von Nervosität scheinbar völlig befreiter Zugriff auf die großen Werke der Klavierliteratur von Bach bis Brahms zugrunde lag. Wilhelm Kempffs Stil – sein künstlerisches Nachschöpfen – ist geprägt von Spontaneität und Natürlichkeit, seine Interpretationen vermitteln den Eindruck des Entstehens im Augenblick. Er habe impulsgeleitet gespielt, erinnert sich Alfred Brendel: “Er spielte aus dem Moment heraus, und bei ihm kam es darauf an, daß wie bei einer Aeolsharfe der richtige Wind blies – ein ganzes Konzert hindurch, oder vielleicht auch nur einen Satz lang. Dann nahm man etwas nach Hause, was man sonst nicht hörte.”
Großzügiger Pädagoge
Auch die Weitergabe seiner Musikerfahrung an die junge Generation war für Wilhelm Kempff stets eine Herzensangelegenheit. 25 Jahre lang hielt er in der “Casa Orfeo”, die er eigens für Unterrichtszwecke in seiner Wahlheimat Positano errichten lies, unentgeltlich Beethoven-Kurse ab. Er war der Auffassung, dessen Musik müsse unbedingt interpretiert werden, eine werktreue Wiedergabe des Notentextes genüge nicht. Zu den Besuchern gehörten u. a. Jörg Demus, Idil Biret und Mitsuko Uchida. Den letzten Kurs hielt Kempff 1982 ab.
60 Jahre Deutsche Grammophon
Die Deutsche Grammophon, nach einem kurzen Intermezzo bei Decca, zeitlebens das Hauslabel Wilhelm Kempffs, veröffentlicht jetzt im Rahmen der limitierten 35-CD-Edition “Wilhelm Kempff, Piano” die kompletten Solo-Aufnahmen des Pianisten. Neben bislang unveröffentlichten Raritäten enthält die Edition seine Zyklen der Beethoven- und Schubert-Sonaten, Anthologien von Bach, Brahms, Liszt, Schubert, Schumann, Chopin sowie Barockwerke. Eine Bonus-CD enthält vier erstsmals auf CD veröffentlichte frühe Aufnahmen aus den 1930er Jahren mit Werken von Bach, Beethoven, Schumann, Schubert und Liszt.