Wilhelm Furtwängler war umstritten. Nicht als Dirigent, denn seine künstlerischen Verdienste waren unangreifbar. Seine Entscheidung jedoch, während des Nazi-Regimes in Deutschland zu bleiben, wurde ihm von vielen Zeitgenossen verübelt. Dabei wählte er einen steinigen, gefährlichen Weg, dessen Ziel im Ungewissen lag. Istvan Szabo ist ihm mit “Talking Sides” filmisch auf der Spur.
Es war eine Karriere wie aus dem Bilderbuch der Künstlermythen. Geboren 1886 als Sohn eines Archäologen in Berlin, wuchs Wilhelm Furtwängler in bürgerlich humanistischem geprägtem Umfeld in München auf. Man entdeckte sein Talent, der Junge lernte Klavier und wurde von Lehrern wie Konrad Ansorge in die höheren Weihen des Pianistendaseins eingeführt. Als Zwanzigjähriger dirigierte er in München Bruckners 9. Symphonie, landete in verschiedenen Orchestern von Straßburg bis Mannheim. Der Karriereschub kam 1920, als er von Richard Strauss die Leitung der Symphoniekonzerte der Berliner Oper übernahm. Binnen weniger Jahre stand der Aufsteiger an der Spitze sowohl der Berliner Philharmoniker, wie des Leipziger Gewandhausorchesters und wurde neben Arturo Toscanini zum gleichberechtigten künstlerischen Leiter der Bayreuther Festspiele berufen.
Furtwängler wurde international berühmt, tourte von Lobeshymnen begleitet durch die USA. Erst als die Nazis an die Macht gewählt wurden, begann sich für ihn das Blatt zu wenden. Er wurde zunächst Leiter der Deutschen Oper Berlin, Vizepräsident der Reichsmusikkammer, bekam aber bald zu spüren, wie die perfiden Machthaber ihre menschenverachtende Politik durchsetzten. Furtwängler engagierte viele jüdische Künstler, wurde deshalb aber derart unter Druck gesetzt, dass er 1934 von seinen Ämtern zurücktrat. Er konzentrierte sich zunächst auf Konzerte und Gastspiele im Ausland, sollte 1936 sogar die Leitung der New Yorker Philharmoniker übernehmen, was aber durch eine zweifelhafte Depesche der Berliner Filiale der Associated Press verhindert wurde, die behautete, er würde wieder die Leitung der Oper in der Reichshauptstadt übernehmen. Bis zum Zweiten Weltkrieg blieb er im Ausland aktiv. Vom Gedanken getragen, den Menschen im Lande besser helfen zu können, wenn er blieb, verzichtete Furtwängler auf das Exil und dirigierte weiterhin in Deutschland. Sein Konzert mit Beethovens Fünfter Symphonie im Juni 1943 in der Deutschen Oper, kurz bevor alliierte Bomben das Gebäude zerstörten, wurde zur Legende, nicht zuletzt durch die Nazis, die den Künstler Furtwängler als “Lieblingsdirigent des Führers” für sich in Anspruch nahmen.
Kurz vor Kriegsende wurde jedoch auch für Furtwängler die Situation lebensbedrohlich. Er flüchtete vor marodierenden Gestapo-Horden in die Schweiz. Kurz darauf musste er sich im Rahmen der sogenannten Entnazifizierung den Verhören der alliierten Kommissare stellen. Das Verfahren zog sich in die Länge. Das Gericht sprach Furtwängler erst am 17. Dezember 1946 von allen Anschuldigungen frei. Künstler wie Yehudi Menuhin und Ernest Ansermet hatten sich vehement für ihn eingesetzt. Von 1947 an kehrte er zum Berliner Philharmonischen Orchester zurück, arbeitete für die Salzburger Festspiele, schließlich wieder für Bayreuth. Im November 1954 starb er in Ebersteinburg. In der Rückschau verdankt ihm die europäische Kultur nicht nur sensationelle Konzerte, sondern auch zahlreiche Uraufführungen von Schönbergs, Bartóks, Hindemiths oder Honeggers Werken. Trotzdem konnte der Schatten, der mit dem sogenannten Dritten Reich auf ihn fiel, ihm nie ganz genommen werden.
Hier setzt Istvan Szabos Film “Taking Sides – Der Fall Furtwängler” ein. Es geht um die Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und die Verhöre, die der Dirigent über sich ergehen lassen musste. Um den Gegensatz zwischen dem einfach strukturierten Major Steve Arnold, der ihn vernahm und sich im Kern nicht für die Kunst, aber für die Wahrheit interessierte, und dem weltbekannten Dirigenten, der seine Überzeugungen einschließlich einiger zweifelhafter Momente vertreten musste. Das Drehbuch von Ronald Harwood basiert auf seinem gleichnamigen, international erfolgreichen Theaterstück. Obwohl fiktional, baut es auf den sorgfältig recherchierten Fakten der Vernehmungen und Verhandlung auf und kontrastiert zwei Erfahrungswelten, moralische Perspektiven und sich widersprechende Interessenslagen, die den Soldaten und den Künstler charakterisieren.
Immer wieder geht es um die Musik. Um Furtwänglers Aufführungen in Kriegszeiten und deren Inanspruchnahme durch die Nazis. Aber auch um den Jazz, den der Offizier als eigentliche Kulturleistung versteht. H.G Pflaum beschreibt den Gegensatz in der Süddeutschen Zeitung vom 7. März: “Man könnte sich die Auseinandersetzung zwischen den Amerikaner, der lieber Swing und Jive hört als Beethoven, und dem Vertreter einer ihm zutiefst suspekten Kultur in einem noch suspekteren System auch als radikales Kammerspiel vorstellen, gelöst von der Außenwelt und konzentriert auf den Clinch der beiden Männer. So hatte Bresson den Prozess der Jeanne d’Arc inszeniert, oder Romuald Karmakar die Verhöre des ?Totmachers' Fritz Haarmann. Szabo hat sich für eine andere Lösung – die des großen Kinos – entschlossen”.
Der Soundtrack zu “Taking Sides” ist daher eine ungewöhliche Zusammenstellung zweier zeitgleich existierender Musikformen, die in dem opulenten Filmwerk aufeinander treffen. Da gibt es Ausschnitte aus Furtwänglers legendären Konzerten. In einem ungewöhnliche Interpretationakt empfindet Daniel Barenboim mit der Staatskapelle Berlin sogar die Atmosphäre der 1943er Aufführung von Beethovens Fünfter Symphonie nach, indem er während der Neuaufnahme via Kopfhörer sich die Originaltempi und Klangfarben des Vorbildes auf sein Orchester überträgt. Auf dern anderen Seite stehen klassische Swing-Stücke von Glenn Miller bis George Gershwin, Swing Dance Orchestra mit der Sängerin Rinat Shaham anstimmt. So ist “Taking Sides” mehr als nur eine Zusammenstellung berühmter Archivaufnahmen. Es ist ein Verweis auf ein Kapitel Kulturgeschichte zwischen Identität und Zerstörung, Menschsein und Gewissen.