Sie ist bekannt für ihr eigenwillig versunkenes Klavierspiel. Auf ihrem neuen ECM-Album durchstreift Anna Gourari komplexe Klanglandschaften, die in mehrere Künste hineinragen.
Der flüchtige Augenblick ist ihr ästhetisches Element. Anna Gourari besitzt ein besonderes Gespür für randständige musikalische Phänomene, die wie ein Hauch sind. In ihrer letzten Solo-Veröffentlichung, die 2014 unter dem Titel “Visions fugitives” beim Label ECM New Series in München herauskam, kündigte sich ihr wachsendes Interesse an flüchtigen Klanggestalten bereits an. Das Album besaß stark wirbelnde Dimensionen und ließ ein farbenreiches Klangspektrum zum Vorschein kommen. Im Zentrum stand ein Zyklus mit hochsuggestiven Klavierminiaturen von Sergej Prokofjew, denen Anna Gourari in expressiver Manier Ausdruck verlieh.
Prokofjews “Visions fugitives” haben einen synergetischen Hintergrund. Der russische Komponist bezog sich mit diesem Werk auf den symbolistischen Lyriker Konstantin Balmont, der in einem seiner Gedichte erklärt hatte, “in jeder flüchtigen Erscheinung” Welten zu erblicken, “voll vom Wechselspiel der Regenbogenfarben”.
Flüchtige Beziehungen
Dieses poetische Ideal passt zu Anna Gouraris neuem ECM-Album, dessen programmatischer Titel die Richtung vorgibt: “Elusive Affinity” heißt so viel wie: “Schwer fassbare Beziehung”. Es geht um Verbindungen, die zwar erahnbar sind, sich aber, sobald man sie zu fassen sucht, entziehen: flüchtige Beziehungen zwischen Musik, Literatur und Wissenschaft oder zwischen Komponisten aus weit entfernten Epochen.
Anna Gourari hat sich für ihr ambitioniertes Vorhaben ein breitgespanntes Repertoire erwählt. Neben avantgardistischen Klavierwerken von Alfred Schnittke, Giya Kancheli, Rodion Shchedrin, Arvo Pärt und Wolfgang Rihm erklingen Vivaldi- und Marcello-Transkriptionen von Johann Sebastian Bach.
Bachs Largo aus dem Concerto Nr. 4 in g-Moll nach Vivaldi, das erstaunlich selbstverständlich mit Pärts früher Tintinnabuli-Komposition “Variationen zur Gesundung von Arinuschka” (1977) und Schnittkes “Fünf Aphorismen” (1990) zusammenklingt, schlägt die elegische Grundstimmung des Albums an. Diese Atmosphäre bleibt, bei aller sonstigen Diversität der Kompositionen. Die Kontinuität verdankt sich neben den besagten flüchtigen Gründen auch dem wiederkehrenden melancholischen Ton des perlenden Anschlags von Anna Gourari.
Elegische Grundstimmung
Bei Rodion Shchedrin ergibt sich die “schwer fassbare Beziehung” aus der musikalischen Affinität des Komponisten zu Gouraris besonderer Spielkultur, die Shchedrin zu seinem nachdenklichen Klavierzyklus “Tagebuch – Sieben Stücke” (2002) inspirierte. Die abwechslungsreichen Miniaturen, die sich zwischen vorsichtig tastenden und pulsierenden Momenten bewegen, sind der russischen Pianistin gewidmet.
Dass Kompositionskunst von Wissenschaft und anderen Künsten profitiert – diese synergetische Idee schwingt in Rihms “Zwiesprache” (1999) mit. Der Komponist sucht mit seiner Folge klanglich zu fassen, was er den Musikwissenschaftlern Alfred Schlee und Hans Heinrich Eggebrecht, dem Dirigenten Paul Sacher, dem Kunsthistoriker Heinrich Klotz und dem Kunstsoziologen Hermann Wiesler jeweils verdankt.
Trotz gelegentlicher Klangeruptionen schmiegt sich der Ton dieser ideenreichen Erinnerungsstücke erstaunlich organisch der elegischen Grundstimmung des Albums an, wodurch man langsam, via Kanchelis chopinesker Filmmusik Klavierstück Nr. 23, auf Bachs hinreißendes Adagio aus dem Concerto Nr. 3 in d-Moll nach Marcello vorbereitet wird, mit dem Anna Gourari das Album empfindsam ausklingen lässt.