Anna Gourari entstammt der großen Tradition des russischen Klavierspiels. Die 1972 in Kasan geborene Pianistin wurde für ihr “fast mystisches Klavierspiel” von einer aus Martha Argerich, Alexis Weissenberg, Vladimir Ashkenazy, Nelson Freire und Joachim Kaiser bestehenden Jury bewundert und zur Siegerin des 1. Internationalen Clara Schumann-Klavierconcours gekürt. Das Fanfare-Magazin bescheinigte ihrem Musizieren eine “ausgesprochen physische, ja instinktive Qualität”, die den Klang von Figuren wie Horowitz und Cortot aus dem Goldenen Zeitalter des Klavierspiels heraufbeschwöre. Nach der hoch gelobten Einspielung von Nachtstücken Fields, Piazzollas, Villa-Lobos’ und Chopins, die Anna Gourari 2003 auf “Mitternacht” für Decca abgeliefert hat, präsentiert ECM New Series nun “Canto oscuro”, das neue Album der Ausnahmepianistin mit einer Sammlung dunkler Gesänge aus Barock, Fin de siècle und dem spätem 20. Jahrhundert.
Erhabenes und Gespenstisches
“Wer verschiedenste musikalische Landschaften durchwandert, begegnet immer wieder Johann Sebastian Bach”, so Hans-Klaus Jungheinrich im Begleitheft zur CD. Auch für Anna Gourari ist der Leipziger Thomaskantor eine feste Burg. Auf “Canto oscuro” spielt sie zwei seiner bewegendsten Choralvorspiele, “Ich ruf' zu Dir, Herr Jesu Christ” und “Nun komm' der Heiden Heiland”, in Busoni-Transkriptionen von friedvoller Erhabenheit. Hinzu nimmt sie Busonis ikonische Version der fesselnden Chaconne aus Bachs Partita Nr. 2 für Solovioline. Auf die russischen Wurzeln der Pianistin verweisen Silotis Transkription des jenseitigen Präludiums in h-Moll aus dem Clavierbüchlein für Wilhelm Friedemann Bach und ein Frühwerk von Sofia Gubaidulina, die Chaconne aus dem Jahr 1962. Im Zentrum des Albums steht Paul Hindemiths Suite “1922”, ein Werk, das zugleich beeinflusst ist von barocken Formen und den Tänzen des Jazz Age. Die Sätze “Shimmy”, “Boston” und “Ragtime” sind von dissonantem, dunkel-ironischem Charakter, während sich das “Nachtstück” ebenso gespenstisch wie eindringlich ausbreitet – ein wahrhaftiger “Canto oscuro”.
“Nicht unbedingt leise …”
Über das Programm ihres neuen Albums sagt Anna Gouirari: “Bach ist ein musikalischer Gott für jeden von uns. Nur schwer ist für mich vorstellbar, dass jemand ihn und sein Genie nicht bewundert. Ich habe viele seiner Werke studiert und gespielt und besonders liebte ich immer seine Choräle. Busonis Transkriptionen sind für mich ein idealer Weg, der es mir ermöglicht, diese Musik nicht nur zu lieben, sondern auch zu spielen.” Für die Pianistin war es ein lang gehegter Wunsch, Gubaidulinas Chaconne mit der vorliegenden Bach-Chaconne in Busonis Bearbeitung zu kombinieren. Die Wahl von Hindemiths Suite “1922” mag in diesem Kontext auf den ersten Blick erstaunen. Doch zweifellos versuchte der Komponist die düstere Stimmung des frühen 20. Jahrhunderts mit seiner sarkastischen Anverwandlung einer Reihe populärer Tänze der 1920er Jahre auszudrücken. Er zwang sie, so Gourari, in einer “fantastischen – und aus unserem Blickwinkel vielleicht geisterhaft erscheinenden – Neo-Barock-Suite“ zusammen. “Dunkle Gesänge sind nicht unbedingt leise …” setzt die Pianistin hinzu.