Es bleibt ein Rätsel, warum Musik im Innersten berühren kann. Ihre Kraft scheint aus dem Nichts zu kommen, nach den Regeln der Verstandes kaum nachvollziehbar. Dennoch vermag sie die Menschen bei der Seele zu packen. Wie Alexei Lubimov mit seinem ungewöhnlichen Klavier-Programm “Der Bote”.
Eine Elegie, sagt der Brockhaus, sei eine Klage, ein Trauergesang, ursprünglich im strengen Zusammenhang griechischer und römischer Dichtkunst, allgemein aber auch in der Welt der Klänge zu finden. “Elegies For Piano” untertitelt Alexei Lubimov sein Recital der Unterschiede, das von Carl Philipp Emanuel Bach über abstrakte Melodien eines John Cage bis hin zu Werken russischer Zeitgenossen wie Tigran Mansurian und Valentin Silvestrov führt. Für den Künstler ist der Zusammenhang eindeutig: “Melancholie – so könnte man dieses Programm nennen; Nostalgische Bilder – wird ein anderer sagen; Stille, Meditation – so wird es ein Dritter empfinden. Man kann es sich auch so denken: Musik, die jemand für sich selbst geschrieben hat – wie ein Tagebuch, das gar nicht zur Veröffentlichung bestimmt ist und das nur Persönlichstes fixiert, etwas, das nur einem selbst erinnerlich ist und vieles besagt”. Und das trotz allem sich nicht dem Hörer verschließt. Denn die im Dezember 2000 entstandenen und nach einer Weise Silvestrovs “Der Bote” benannten Aufnahmen finden ihre Stärkte in der Bedeutsamkeit der kleinen Zeichen, der Details, die sich nicht auf die Oberfläche der Darstellung beschränken.
Musik als Lotse in vergessenes Terrain der Empfindung – das ist ein heikles Konzept. Nur allzu schnell stellen sich die mahnenden Zeigefinger der Kulturkritiker ein, die vor den Verlockungen des New Age warnen. Tatsächlich neigen Gesamtkonzepte mit dem Schwerpunkt auf der Innerlichkeit zuweilen unter dem Stigma des Beliebigen. Lubimov entgeht dieser künstlerischen Fallgrube jedoch durch die Direktheit seines Ausdrucks. Die Ursprünge er Unmittelbarkeit reichen dabei bis in die frühen Jahre seiner eigenen Biographie zurück. Im Jahr 1944 in Moskau geboren, bei Heinrich Neuhaus unterrichtet, zählte Lubimov bereits als 16jähriger Teenager zu den Stars der Sowietrussischen Klaviergarde. Er machte sein heimisches Publikum mit John Cage und Terry Riley bekannt, brachte ihnen Landsleute wie Silvestrov nahe und schaffte es schließlich seit 1987, auch über die Grenzen des Eisernen Vorhangs hinaus in der Welt der Konzertsäle auf sich aufmerksam zu machen.
Über die Jahre hinweg eignete Lubimov sich ein Repertoire an, das von den Klassikern der Klavierkunst wie Mozart, Schubert, Chopin und Brahms bis zu den Experimentellen der Avantgarde reicht. Insofern ist “Der Bote” als Patchwork der Kulturverweise ein konsequent auf seine Möglichkeiten zugeschnittenes Programm. Es präsentiert den Pianisten als Propheten des Verhaltenen, als Individualisten mit dem Mut zum Wesentlichen. Für Peter Cossé, der das Programm mit ausführlichen Worten im Booklet begleitet, geht es sogar bis an die Grenzen des Darstellbaren überhaupt: “In ihren zehn Metamorphosen des Innerlichen spiegelt die von Alexei Lubimov gewählte Werkfolge alles Gewesene an der Schwelle zum Kommenden”. Mit anderen Worten: ein Meisterwerk, ein Glücksgriff.