Victor Altay, Konzertmeister bei der Konkurrenz in Chicago, fasste die Faszination, die von Carlo Maria Giulini ausging, einmal so zusammen: „In fünf Minuten hatte er ein Orchester, das ihn liebte. Sein Zugang zur Musik war so ehrfürchtig und ehrlich, seine Vorstellung von Musik war so klar und profund, dass ihm das ganze Orchester zu Füßen lag.“ Für den Maestro selbst war die Entscheidung, sich an das Pult eines Ensembles zu stellen, oft das Resultat langer Erwägungen. Denn tatsächlich war er ein feinsinniger Überzeugungstäter, der vor allem darauf hoffte, die Oberfläche der Musik auf der Suche nach den Urgründen des Ausdrucks zu durchdringen.
Deshalb entschied er sich auch, zum Spielzeitbeginn 1978/79 die Leitung des Los Angeles Philharmonic Orchestra zu übernehmen. Denn er spürte, dass ihm mit diesen Musikern etwas Besonderes gelingen könnte: „Das Orchester ist voller junger Leute, die darauf brennen zu musizieren. Sie sagen nicht, ach, schon wieder der Beethoven. Das Musizieren ist ihr Ein und Alles. Und das Zusammengehörigkeitsgefühl in diesem Orchester ist einfach unvergleichlich“.
Bis 1984 blieb Carlo Maria Giulini in Los Angeles. Es war eines der längsten Engagements, die der geborene Süditaliener im Laufe seiner Karriere überhaupt akzeptierte. Er galt als sensibler und strenger Detailarbeiter, der die Probendisziplin seines Lehrers und Mentors Toscanini noch verfeinert hatte, um damit möglichst präzise und ergreifende Ergebnisse zu erzielen. Das machte ihn zu einem international gefragten Maestro, der schon in den Sechzigern zahlreiche attraktive Angebote erhalten hatte.
So ernannte ihn im Jahr 1969 beispielsweise das Chicago Symphony Orchestra nicht ganz ohne hoffenden Hintergedanken zum Ersten Gastdirigenten. 1973 übernahm er für drei Jahre die Leitung der Wiener Symphoniker und arbeitete neben den Chicagoern bevorzugt mit dem Londoner Philharmonia Orchestra. Aber erst die Leitung der Los Angeles Philharmonic schaffte es, ihn sechs Jahre lang mit Verve und Intensität zu binden.
Die CD Box „Giulini In America“ fasst nun diese ungemein kreative und intensive, aber von Giulini nur selten archivierte Ära auf 6 CDs zusammen. Bei den ebenso raren wie wegweisenden Einspielungen handelt es sich im Einzelnen um die Symphonien Nr. 3, Nr. 5 und Nr. 6 von Ludwig van Beethoven, die Symphonien Nr. 1 und Nr. 2 von Johannes Brahms, der „Manfred-Ouvertüre“ und die dritte Symphonie von Robert Schumann und eine für Carlo Maria Giulini ungewöhnliche Zusammenstellung impressionistischer Meisterstücke mit Claude Debussys „La Mer“ und den Kompositionen „Rhapsodie Espagnole“ und „Ma Mère L’Oye“ von Maurice Ravel.
Die Box konzentriert sich dabei auf die symphonischen Arbeiten des Dirigenten, die Einspielung von Verdis Oper „Falstaff“ liegt daher als eigenständige Veröffentlichung vor und die ebenfalls in dem Zeitraum der amerikanischen Phase entstandenen Aufnahmen der Klavierkonzerte von Frédéric Chopin mit Krystian Zimerman als Solist sind zur Zeit nicht erhältlich. Um so mehr lohnt das Studium und der Genuss dieser außergewöhnlichen Box, die zu Ehren des vor fünf Jahren hochbetagt gestorbenen Maestro herausgegeben wurde, eines Dirigenten einer Generation, die mit Persönlichkeiten wie Herbert von Karajan, Sir George Solti, Günter Wand oder auch Sergiu Celibidache die Orchestersprache des vergangenen Jahrhunderts geprägt hat.