Als die Nachricht von seinem Tode eintraf, stand die Klassik-Welt unter Schock. Zwar wusste man um seinen prekären Gesundheitszustand, aber als der Tod dann wirklich eintrat, kam das ganze Ausmaß dieses Verlustes mit aller Wucht zum Vorschein. Mit Claudio Abbado, der am 20. Januar 2014 verstarb, verlor die Musikwelt einen ihrer größten Dirigenten. Seine Interpretationskunst war schon zu Lebzeiten legendär. Wer Abbado am Pult sah, der konnte einen Meister bei der Arbeit beobachten, der mit all seinen Nervenfasern an der musikalischen Aufführung hing und innige Verbindungen mit seinem Orchester einzugehen vermochte.
Gefühle und Gedanken
Abbado verstand es, ohne große Gesten Akzente zu ersetzen. Er stellte sich dem Orchester nicht als unantastbare Autorität gegenüber, sondern in höflicher Manier. “Es ist”, beschrieb er einmal sein Verhältnis zum Orchester, “wie ein Gespräch, bei dem man nicht nur aufmerksam lauscht, sondern auf den anderen eingeht und versucht, auch das Unausgesprochene, Gefühle und Gedanken zu erfassen.” Mit seiner feingliedrigen Eleganz zauberte er jede noch so nebensächlich scheinende musikalische Phrase eines Werkes hervor. Zugleich gelang es ihm, die langen Linien großer Sinfonien deutlich zu ziehen. Bei Abbado floss es. Das Orchester durfte sich frei entfalten, und wenn man jetzt den Live-Mitschnitt seines letzten großen Auftritts hört, dann spürt man bei allem traurigen Ernst von Bruckners unvollendeter 9. Sinfonie diese Gelöstheit und Spielfreude, die er den Musikern ermöglichte.
Das Unausgesprochene
Zu dieser Gelöstheit gesellt sich ein geheimnisvoller, in überirdische Sphären drängender Ton, den man in dieser Intensität noch nicht gehört hat. Das Lucerne Festival Orchestra, dessen Musiker Abbado noch eigens rekrutiert hat, entwickelt ein enormes Feingespür für die geheimnisvolle Atmosphäre in Bruckners Neunter – einer Sinfonie, die bei aller rätselhaften Bedrohlichkeit im Ganzen doch versöhnlich wirkt. Es ist, als ob im Angesicht des Todes noch einmal die ganze Schönheit des Lebens hervorbricht. Alles fließt in dieser Sinfonie. Man möchte gar nicht von einzelnen Sätzen sprechen. Den oft merkwürdig fremdartigen Tönen der Bläser, die auf etwas Unbekanntes zu verweisen scheinen, stehen berückend schöne Streicher-Melodien gegenüber. Aber beides gehört zusammen: die Farbenpracht des Lebens und die Fremdheit des Todes. Und wer wäre besser als Claudio Abbado dafür prädestiniert gewesen, dieser Stimmung Ausdruck zu verleihen?
Eine wahre Hommage
Der Intendant des Luzern Festivals, Michael Haefliger, hat die Konzertatmosphäre an jenem denkwürdigen Abend in berührenden Worten beschrieben: “An diesem Abend stand die Vermutung im Raum, es wäre vielleicht sein letztes Konzert gewesen, so weit entfernt, tief verklärt schien uns allen Claudio Abbado an diesem unvergesslichen Abend, in diesem Moment der unfassbaren Stille.” Aber dieser Moment ist musikalisch festgehalten. Er bleibt. Die Leipziger Produktionsfirma
Accentus Music hat das Ereignis aufgenommen, und wer diese Aufnahme jetzt hört, der kann teilhaben an den überirdischen Klängen Bruckners, dem letzten Geschenk, das Claudio Abbado der Musikwelt machte, Von seinem Stammlabel
Deutsche Grammophon wird es jetzt in gewohnt liebevoller Manier, unter Beifügung eines glänzenden Essays von Oreste Bossini, den Hörern übergeben.
Sehen Sie hier das
Interview, das wir mit Sid McLauchlan, Abbados Recording Producer bei der Deutschen Grammophon, geführt haben.
Außerdem haben wir für sie die
Fotogalerie “Claudio Abbado 1933 – 2014” zusammengestellt, mit Abbados schönsten Bildern.