Dass ein unabhängiges Plattenlabel sein 40-jähriges Jubiläum feiern kann, ist eine ausgemachte Rarität. Oft werden die mit viel Enthusiasmus gestarteten unabhängigen Labels nach einer Erfolgswelle von einem der großen Plattenkonzerne aufgekauft und verlieren dann so nach und nach ihr ursprüngliches Gesicht. Nicht so Manfred Eichers ECM Records: Der rastlose Produzent bewahrte vier Jahrzehnte lang seine vollkommene Unabhängigkeit und überrascht selbst in einer Zeit, in der viele Plattenfirmen über zurückgehende Umsätze klagen und ihren kreativen Output drosseln müssen, mit ungebrochenem Elan und musikalischem Pioniergeist. 1969 als Jazzlabel gestartet, legte sich ECM Records 1984 mit der ECM New Series einen Klassikableger zu, der längst genauso profiliert ist wie das Jazzlabel und die Klassikwelt auf ähnliche Weise revolutionierte. In der internationalen Presse wurde das Jubiläum dieser außergewöhnlichen Plattenfirma deshalb auch gebührend gefeiert.
“In einem Zeitalter zunehmender Standardisierung ist echte Individualität nur begrüßenswert”, hieß es etwa im britischen Klassikmagazin
Gramophone, das ECM zum Label des Jahres kürte. “Jedes Jahr ehren wir ein Plattenlabel, das eine gewinnende Kombination von Kreativität, Phantasie, geschäftlichem Scharfsinn, Stil aufweist – alles Dinge, die man wiederum in diesem einen Wort zusammenfassen kann: Individualität. Dieses Jahr richten wir den Scheinwerfer auf ein Label, das seinen einzigartigen Weg 40 Jahre lang mit beträchtlichem Erfolg verfolgt hat: ECM und, spezieller für ‘Klassik’-Fans, seine New Series. ECM ist eines dieser seltenen Labels, bei denen sämtliche Produktionen die Fingerabdrücke eines einzigen Mannes tragen – jene des Visionärs Manfred Eicher, der weit mehr als nur ein ‘A&R-Mann’ ist. Er ist ECM und ECM ist Manfred Eicher.”
In der
Süddeutschen Zeitung schrieb der britische Schriftsteller Geoff Dyer, der laut Keith Jarrett mit “But Beautiful” (1991) das “einzig empfehlenswerte Buch über Jazz” verfasst hat: “Der ECM-Sound ist so leicht erkennbar wie der von Blue Note aus den Sechzigern. ECM ist gleichermaßen Musikstil wie Label; im Unterschied zu Blue Note ist ECM jedoch nie formelhaft geworden. […] Mutig zu seinen Überzeugungen zu stehen, ist, wie Nietzsche gezeigt hat, eine ziemlich bescheidene Tugend; den Mut zu haben, die Überzeugungen anzugreifen, ist eine völlig andere Sache.” Und indem er seine eigenen Überzeugungen immer wieder hinterfragte, schaffte es Manfred Eicher, in diesen vierzig Jahren nie ins Formelhafte zu verfallen.
Das Label selbst beging das Jubiläum mit einer Reihe besonderer Aktionen: Das Spektrum reichte von speziellen ECM-Features bei Festivals in aller Welt (das Mannheimer Enjoy Festival widmet ECM beispielsweise gleich vier Tage mit Jazz- und Klassikkonzerten), der DVD-Veröffentlichung des 1990 von Manfred Eicher und Heinz Bütler gedrehten Films “Holozän“, über die Publizierung eines zweiten Bands mit ECM-Cover-Art
(“Windfall Light – The Visual Language of ECM” im Schweizer Lars Müller Verlag) bis hin zur CD-Wieder- bzw. Erstveröffentlichung von zahlreichen richtungsweisenden ECM-Klassikern. Auch für Freunde der guten alten Vinylscheibe hatte ECM 2009 eine Überraschung parat: Nach fünfzehn Jahren Pause kehrt das Vinyl bei dem Münchner Label aus der Versenkung zurück – “Yesterdays”, das neueste Album von Keith Jarrett, Gary Peacock und Jack DeJohnette, sowie Enrico Ravas “New York Days” wurden auch als Doppel-LP, gepresst auf 180-Gramm-Vinyl, für Audiophile veröffentlicht.
Markiert war das Jubiläumsjahr aber natürlich auch von herausragenden Neuveröffentlichungen. Der untrennbar mit der Labelgeschichte verbundene Pianist
Keith Jarrett begeisterte die Jazzwelt nicht nur mit dem in Tokio aufgenommenen Trio-Album
“Yesterdays”, sondern auch mit der drei CDs umfassenden Box
“Paris/London – Testament”, die ihn einmal mehr als unvergleichlich improvisierenden Solisten präsentierte. Für beide Alben erntete er allerorten hervorragende Kritiken. Etwas kontrovers wurde in der deutschen Presse hingegen Keith Jarretts erster Soloauftritt in der Berliner Philharmonie diskutiert. Während ihn Stefan Hentz in der
Zeit als “betörend schönes Konzert” feierte und Wolfgang Sandner Jarrett in der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung als “phänomenalen Künstler” beschrieb, der über einen “unerschöpflichen Reichtum an musikalischen Gedanken” verfügt, vertieften sich Journalisten anderer Publikationen mehr in die Randereignisse des Konzerts denn in die dargebotene Musik.
Für Furore – allerdings rein positiver Natur – sorgte auch
Jan Garbarek mit seinem ersten Live-Album
“Dresden”, das er mit Schlagzeuger Manu Katché, Keyboarder Rainer Brüninghaus und Bassist Yuri Daniel eingespielt hatte. “Was die Konzertbesucher seit Jahrzehnten fasziniert”, meinte Thorsten Meyer im
JazzPodium, “ist nun auch auf Tonträger nachzuvollziehen: die schlicht-schönen Themen, die eingewoben werden in ein von stetiger Interaktion geprägtes Klangbild, oder der durchgängige Spannungsbogen der beiden Konzerthälften mit seinen mal kurzen, mal längeren Solokadenzen der Bandmitglieder (vor allem Pianist Rainer Brüninghaus zeigt in ‘Transformations’ seinen Ideenreichtum). Zudem hat Garbareks Musik durch Katché zusätzlichen Drive gewonnen.”
Einen “Sieg des Phantastischen über die Schwerkraft des Profanen” errang
Enrico Rava laut
FAZ-Rezensent Alessandro Topa auf seinem jüngsten Album
“New York Days”: “Für sein neues Album hat sich der Trompeter Enrico Rava mit den Besten der Zunft [Pianist Stefano Bollani, Tenorsaxophonist Mark Turner, Bassist Larry Grenadier und Schlagzeuger Paul Motian] zusammengetan. Heraus kam ein Streifzug durch die Jazzgeschichte, der auch als Gesamtkunstwerk durchgeht.”
Ravas Pianist
Stefano Bollani glänzte nicht minder auf seinem eigenen ECM-Trio-Album
“Stone In The Water”. “Dass dieses Trio den Namen des italienischen Pianisten Stefano Bollani trägt, ist keine Selbstverständlichkeit”, meinte die
Neue Zürcher Zeitung. “Tatsächlich wird die Formation bisweilen nach ihrem Bassisten, dem Dänen Jesper Bodilsen, benannt. Und auch als Band des dänischen Drummers Morten Lund könnte das Trio bestens durchgehen. Auf dem neuen Album ‘Stone In The Water’ scheint dieses improvisierende Dreigespann mehr noch als andere Piano-Trios durch musikalische Dreieinigkeit geprägt – durch den Umstand, dass sich alle einem Gesamtklang unterordnen, einfügen. Und was jeder schon in seinem persönlichen Spiel beweist – Sensibilität gegenüber der klanglichen Tradition seines Instruments -, läuft im Zusammenspiel auf eine geradezu berauschende Klangkultur hinaus.”
Mit einem brandneuen Quintett – besetzt mit jungen, noch weitgehend unbekannten Musikern aus Finnland und Dänemark (Pianist Alexi Tuomarila, Gitarrist Jakob Bro, Bassist Anders Christensen und Schlagzeuger Olavi Louhivuori) nahm der polnische Trompeter
Tomasz Stanko sein faszinierendes Album
“Dark Eyes” auf. “Auf Tomasz Stanko ist Verlass”, urteilte Wolf Kampmann in der
Jazzthetik. “Immer und unter allen Umständen. Er hat in seiner langen Laufbahn nicht wenige Alben gemacht, doch sein hoher Anspruch an sich selbst ließ niemals nach. So schafft er es auch mit 67 Jahren noch, uns zu überraschen. […] Es ist schwer, Stankos Musik zu kategorisieren. Vielleicht nähert er sich mit seinem neuen Album informell ein wenig dem Jazzrock an, ohne ihn tatsächlich zu spielen. Aber zumindest sein Klangverständnis ist elektrischer.”
Mit einer originell neubesetzten Band – Klaus Gesing (Bassklarinette), Björn Meyer (Bass) und Khaled Yassine (Darbouka & Bendir) – nahm der Oud-Spieler
Anouar Brahem “The Astounding Eyes Of Rita” auf. “Der tunesische Oud-Virtuose Anouar Brahem steht seit langem für unverwechselbare und originäre CD-Projekte”, meinte der
MDR in einer Besprechung des Albums. “Dabei entzieht sich der Klangkosmos des musikalischen Grenzgängers jeglichen Kategorien. Auch die Musik der aktuellen CD bewegt sich an den Schnittstellen zwischen Orient und Okzident, zwischen Worldmusic, Jazz und tradierter europäischer Kunstmusik. Ohne die verschiedenen Idiome respektive Klangkulturen gegeneinander auszuspielen, versammelt Brahem die Musik des ganzen Mittelmeerraumes: Ein so betörendes wie kontemplatives Amalgam!”
Pianist
Steve Kuhn setzte sich auf dem herzerweiternden Album
“Mostly Coltrane” gemeinsam mit einem grandiosen Joe Lovano, Bassist David Finck und Drummer Joey Baron noch einmal mit der Arbeit seines früheren Chefs John Coltrane auseinander. Dass sie bei einem solchen Unternehmen Gefahr laufen könnten, ins Epigonale zu verfallen, war den Musikern bewußt. “Gerade deshalb meiden die vier wohlweislich jeden Klischee-Fallstrick”, erkannte Reinhard Köchl in
Jazz thing richtig. “Sparsam, subtil, eher introvertiert, aber ohne Substanzverlust nähern sie sich den Stücken, die bis auf drei aus den verschiedenen Schaffensperioden des Meisters stammen. Was Wunder, wenn der Produzent Manfred Eicher heißt. Die Intensität glimmt von innen, wächst durch das dichte Interplay und fließt wie ein mächtiger Fluss. Coltrane, einfühlsam restauriert.”
Besuchen Sie für nähere Informationen auch die
ECM-Jubiläumsseite.