Das vielleicht ungewöhnlichste Werk des Jahres gelang dem Konzertpianisten
Anthony de Mare mit seinen beeindruckenden “
Liaisons: Re-Imagining Sondheim From The Piano”, das schon jetzt als ein weiterer wahrer Meilenstein in der Geschichte des Labels apostrophiert werden kann. Zu den weiteren Höhepunkten des Jahres gehörten aber auch neue Veröffentlichungen von
Márta und György Kurtág (“Játékok – Games And Transcriptions For Piano Solo And Four Hands”), dem
Keller Quartet (“Cantate E Tranquilo”) und Pianist
András Schiff (“Franz Schubert”).
Darüberhinaus galt es drei Geburtstage zu feiern: der estnische Komponist
Arvo Pärt (“Musica Selecta”) und sein georgischer Kollege
Gyia Kancheli (“Chiaroscuro”) wurden 80, und der Pianist
Keith Jarrett – der eigentlich in der improvisierten Musik und dem Jazz zuhause ist, aber auch immer wieder, wie auf “
Samuel Barber/Béla Bartók”, erfolgreiche Abstecher ins klassische Fach unternimmt – wurde 70.
Márta und György Kurtág: Berückend schöne Sphären
“Játékok – Games And Transcriptions For Piano Solo And Four Hands” ist ein Piano-Recital von Márta und György Kurtág mit Miniaturen und kleinen Hommagen, zwischen die György Kurtág auch einige seiner Bach-Transkriptionen einstreute. Die Regisseurin Isabelle Soulard zeichnete den beeindruckenden Duo-Auftritt des Paars am 22. September 2012 in der Cité de la Musique in Paris für die gleichnamige DVD/Bluray Disc auf. “Gebannt und auch ein wenig gerührt verfolgt man somit den Live-Mitschnitt eines Konzerts, das die Kurtágs 2012 in der Pairser Cité de la Musique zu Ehren der verstorbenen Musikwissenschaftlerin Haydée Charbagi gegeben haben”, Guido Fischer in Rondo. "Insgesamt 43 Stücke standen da auf dem Programm, die allesamt aus dem mehrbändigen Sammelwerk “Játékok” (Spiele) für zwei und vier Klavierhände stammen, an dem György Kurtág seit 1973 gearbeitet hat. Darunter finden sich aber nicht nur zahlreiche musikalische, zumeist schmucklose und doch in ihrer Konzentriertheit so reizvolle Gedenktafeln auch an alte Weggefährten.
Die “Hommage à Domenico Scarlatti” fällt da von ihrem technischen Anspruch sowie ihrer verqueren Tonsprache mehr als nur aus dem Rahmen. Und zwischen die Aphorismen, die wie das freche “Tumble-bunny” manchmal sogar an Satie erinnern, streuen Márta und György Kurtág immer wieder Bach-Transkriptionen vorrangig von Chorälen ein, die einfach nur berückend schöne Sphären zum Klingen bringen.
Keller Quartet: Meditative Kraft, magisches Licht, Stillstand der Zeit
“
Cantate E Tranquilo” ist eine Anthologie, in der das 1987 von dem ungarischen Geiger
András Keller gegründete Streichquartett eine Bilanz aus zwei Jahrzehnten ECM-Aufnahmen gezogen hat. Das Repertoire, das von András Keller und
Manfred Eicher mit aller Sorgfalt ausgewählt wurde, besteht ausschließlich aus langsamen Sätzen und reicht von Beethoven und Bach bis zu
György Ligeti, György Kurtág,
Alfred Schnittke und
Alexander Knaifel. “Meditative Kraft, magisches Licht, Stillstand der Zeit”, notierte
Otto Paul Burkhardt in
Audio, “eine exemplarisch interpretierte Werkauswahl mit famoser Songwirkung, ein packendes Plädoyer für Besinnung, Einkehr in einer aus den Fugen geratenen Welt.”
In der Sunday Times schrieb Stephen Pettitt: “Gespielt mit Wärme und Gelassenheit, kombiniert dieses reizvolle Recital bereits früher veröffentlichtes Material – Sätze von Ligeti, Schnittke, Kurtág und Alexander Knaifel – mit neuen Aufnahmen von Bach (aus ‘Die Kunst der Fuge’), Beethoven (zwei Aufführungen des langsamen Satzes von Op. 135 und die bekannte Cavatine aus Op. 130) und fünf weitere Stücke von Kurtág.”
András Schiff: Ein Rebell der feinen Töne
Zu einer ergreifende Zeitreise lädt András Schiff das Publikum auf seinem neuen
Doppelalbum ein, für das er Werke von
Franz Schubert auf einem Hammerflügel von
Franz Brodmann interpretiert hat. “Wie von selbst öffnet sich beim Hören der Horizont, die Abstufungen ins Pianissimo scheinen unendlich”, bemerkte
Julia Schölzl auf
BR-Klassik. “Im Fortissimo spürt man das Holz und die Saiten, das ganze Material des Fortepianos arbeitet. Unter dieser physischen Belastung kann die scheinbar schwerelose Musik prinzipiell nicht ins Kitsch-Körperlose entgleiten. Im Gegenteil: die instrumentale Erdhaftung macht Schuberts Einfälle gerade noch viel visionärer. Der Pianist András Schiff folgt einem Bruder im Geiste, folgt dessen Gedanken, lauscht den sensiblen Schwingungen seines Instruments nach. Auf der Suche nach Poesie ohne Pathos, ein Rebell der feinen Töne.” In der
Badischen Zeitung schwärmte
Alfred Rogoll: “Das gesamte hier gebotene umfangreiche Werk mit Sonaten, Moments musicaux, Allegretto und Impromptus fesselt mit feinem Klanggefüge und ungewohnter Abschattierung. Feine Phrasierungen gehören zu Schiffs Format. Detailfreudiges Spiel und erstaunliche Tempi (Sonate G-Dur D 894) schmücken diese auch aufnahmetechnisch hochwertige Einspielung des gebürtigen Budapesters.”
Keith Jarrett: Absolut seriös, technisch makellos, musikalisch überzeugend
Weiten Teilen des Publikums ist der Pianist Keith Jarrett vor allem als Solo-Improvisator und brillanter Neudeuter von Jazzstandards bekannt. Aber im Laufe seiner Karriere, die mittlerweile 50 Jahre umspannt, glänzte er auch immer wieder als blitzgescheiter Interpret klassischer Werke.
Zum 70. Geburtstag des Künstlers am
8. Mai 2015 erschien parallel zu dem neuen
Solo-Improvisationsalbum “
Creation” ein solcher Ausflug auf klassisches Terrain. “
Samuel Barber/Béla Bartók” bietet unveröffentlichte Aufnahmen aus der Mitte der 1980er Jahre. Begleitet von zwei klassischen Orchestern spielt Jarrett hier Klavierkonzerte von
Barber und
Bartók. “Völlig egal, was Jarrett spielte und spielt, stets ist da eine zutiefst ernsthafte Auseinandersetzung mit der Musik zu spüren”, meinte
Oswald Beaujean auf BR-Klassik. “Jazz, Improvisation, Bach, Schostakowitsch, Standards – it’s music, stupid, könnte man diesem großen Künstler in den Mund legen. […] Wichtig ist, wie hier ein ganz Großer der Jazzszene mit großer klassischer Musik des letzten Jahrhunderts umgeht, absolut seriös und, technisch makellos, musikalisch überzeugend.”
Arvo Pärt: Körperlos-schwebende Klänge
Mit Arvo Pärts “
Tabula Rasa” lancierte Manfred Eicher 1984 sein neues Label
ECM New Series, das seitdem zu einem der wichtigsten Plattformen für die Veröffentlichung zeitgenössischer Klassik, aber auch Alter Musik geworden ist. Das Album erwies sich nicht nur für die New Series als wahrer Glücksfall, sondern verhalf auch dem estnischen Komponisten zu einer weltweiten Anerkennung und Popularität, die er davor nicht gekannt hatte. Zu
Pärts 80. Geburtstag am
11. September 2015 brachte Manfred Eicher unter dem Titel “
Musica Selecta” auf einer
Doppel-CD eine persönliche Auswahl aus dem reichen Opus des Jubilanten heraus. “Einmal hat Arvo Pärt seine Musik mit weißem Licht verglichen”, wusste
Tobias Schmitz im
Stern zu berichten. “In diesem seien zwar alle Farben enthalten, aber erst der Geist des Zuhörers wirke wie das Prisma, das die Farben trennen und sichtbar machen könnte. Ein schönes Bild für die körperlos-schwebenden Klänge des estnischen Komponisten […] Zu dessen 80. Geburtstag vereinigt die Doppel-CD ‘Musica Selecta’ exemplarisch seine bedeutendsten Schöpfungen für Soloinstrumente, Kammermusik-Ensembles, für Chor und großes Orchester. Pärts Licht leuchtet, was beim Zuhören manchmal einer spirituellen Erfahrung gleicht.”
Anthony de Mare: Ein Meilenstein à la “Officium”, “Tabula Rasa”, “Diwan” oder “Köln Concert”
Dem Konzertpianisten Anthony de Mare gelang mit “Liaisons: Re-Imagining Sondheim From The Piano” ein wahrlich außergewöhnlich ambitioniertes Projekt. An 36 zeitgenössische Künstler aller erdenklichen Genres vergab er den Auftrag, aus Liedmaterial des Musiktheaterkomponisten Stephen Sondheim eigene Klavierwerke zu schaffen, die dann von ihm eingespielt wurden. Das Ergebnis ist rundum verblüffend und fesselnd. “Manchmal funktionieren Dinge, die auf dem Papier gut aussehen, in der Wirklichkeit gar nicht”, schrieb John Kelman bei All About Jazz. “Aber ‘Liaisons: Re-Imagining Sondheim From The Piano’ ist nicht nur eine herausragende Veröffentlichung für das Label, den Pianisten und all die Künstler, die beauftragt wurden, Arrangements beizutragen – darunter Wynton Marsalis, Fred Hersch, Ethan Iverson von The Bad Plus, Daniel Bernard Roumain, Steve Reich, Annie Gosfield, Eric Rockwell, Jason Robert Brown, Duncan Sheik, Mark-Anthony Turnage, Kenji Bunch, Mason Bates, Frederic Rzewski, John Musto, David Shire und 21 andere -, für ein Label, das alles verachtet, was nach Konventionen riecht, und konstant zu interdisziplinären, interkulturellen, interstilistischen Ausflüge ermuntert, ist es eine Aufnahme, die zu einem weiteren Meilenstein werden dürfte: ein weiteres ‘Officium’; ein weiteres ‘Tabula Rasa’; ein weiteres ‘Siwan’; ein weiteres ‘Köln Concert’.”
Giya Kancheli: “Ohrenkino par excellence”
Der Georgier Giya Kancheli gilt als einer der tiefgründigsten Komponisten der Gegenwart. Anlässlich seines 80. Geburtstag (am 10. August 2015) veröffentlichte ECM das Album “
Chiaroscuro”, das zwei elegische, für Violine und Kammerorchester geschriebene Neukompositionen Kanchelis enthält. Interpretiert werden sie in mitreißender Weise von dem Kancheli-Intimus
Gidon Kremer, seiner junge Instrumentalkollegin
Patricia Kopatchinskaja und die
Kremerata Baltica.
“Kanchelis Konzert ‘Twilight’ für zwei Violinen und Kammerorchester entstand auf Anregung Gidon Kremers, und Patricia Kopatchinskaja spielte es hier mit gemeinsam mit Kremer und seinem Ensemble Kremerata Baltica ein”, schrieb Werner Theurich bei Spiegel Online. "Kopatchinskaja und Kremer eignen sich den suggestiven Zauber des Werkes überzeugend an. Dass Kancheli auch erfolgreiche Kino-Soundtracks geschrieben hat, merkt man beiden Kompositionen auf ‘Chiaroscuro’ an. Wundervoll innig duettiert Kremer mit seiner wilden jungen Kollegin: Man versteht sich bestens. Der geschickte Umgang mit atmosphärischen Klangschichten und harten Gegensätzen schafft Spannung und sanft dramatische Steigerungen: Ohrenkino par excellence.”