Euripides hielt den Zeigefinger hoch. Seine Mitbürger in Athen rüsteten zum Krieg gegen Sizilien, der Dramatiker schrieb ‘Troades’ als Mahnung. Es half nichts. Alkibiades zog mit seiner Flotte in die Ferne und wurde vernichtend besiegt. Es war der Anfang vom Ende der griechischen Großmacht. Und es ist ein Stoff, der Künstler immer wieder fasziniert. Wie die Komponistin Eleni Karaindrou, die im vergangenen Jahr ihre Version der “Trojan Women” verwirklichte.
Am deutlichsten sagte es Jean-Paul Sarte, der in der ‘Troerinnen’ seinem Poseidon ernüchterte Worte in den Mund legte: “Führt nur Krieg, ihr blöden Sterblichen, verwüstet nur die Felder und die Städte, schändet nur die Tempel und die Gräber und foltert die Besiegten: Ihr werdet daran verrecken. Alle!” Mehr noch als Franz Werfel in dessen Bearbeitung des Stoffes von 1913 hatte der französischen Intellektuelle verheerende Bilder vor Augen, Szenen aus dem Algerienkrieg, die den menschlichen Geist an der Vernunft zweifeln ließen. Die Szenerie, in die er den wütenden Meeresgott einbettete, hatte er dem antiken Dichter Euripides entlehnt, der als Augur der sich selbst entmachtenden Demokratie einst seine Mitbürger vor den Gefahren kriegerischen Größenwahns warnte. Im Jahr 415 v.Chr. wurde seine Tragödie “Troades” (“Die Troerinnen”) in Athen aufgeführt und bewirkte trotz der angesehenen Position des Dichters nicht den Stimmungsumschwung, den er sich erhofft hatte.
Mag sein, dass die verhaltenen Wirkung auch an Euripides Umsetzung der Idee lag. Seine Tragödie verzichtete auf die großen Handlungsmuster, die er sonst bei Dramen einzusetzen pflegte. Sie war vielmehr eine Aneinanderreihung von Klagen, mit denen wichtige Figuren der troischen Geschichte ihr individuelles Schicksal mit dem ihrer Heimatstadt verbanden. “Troades” war für seine Zeit ein ungewöhnlich analytisches Stück, hellsichtig in der Prophetie der Katastrophe, die analog zum Sagenschauplatz Troja wenig später das reale Athen ereilen sollte. Vielleicht war es deshalb bei den Zeitgenossen wenig erfolgreich und wurde hauptsächlich durch die lateinische Bearbeitung des Seneca der Nachwelt erhalten. Trotzdem gehört es eng zur griechischen Geschichte, als Mahnmal, Erinnerung, vielleicht auch allgemeine Botschaft, die Menschlichkeit nicht zu vergessen.
Eleni Karaindrou jedenfalls war der Stoff schon lange, bevor sie sich mit ihm musikalisch auseinander setzte, bekannt: “Meine wahre Begegnung mit den ‘Troianerinnen’ hatte ich an einem nebligen Morgen vor zehn Jahren in meinem Heimatort Teichion, einem kleinen Bergdorf mitten in Griechenland, das Thukydides bereits in seinem ‘Peleponesischen Krieg’ erwähnte. Es war eine einfache Lesung von Antonis Antypas, der die ‘Troianerinnen’ im vergangenen Sommer auch beim Griechenlandfestival in Epidaurus inszenierte. Und ich wunderte mich, woran es lag, dass ich mit einem Mal die Wahrheit eines Werkes, das Denken und Leiden des Dichters verstand? Ich habe das Drama oft zuvor gesehen, trotzdem dauerte meine Begegnung damit bis zu diesem Morgen. Denn es gibt etwas jenseits der Untersuchung und Analyse, jenseits der Anhäufung von Wissen und Information, etwas jenseits des Verstehens eines poetischen Textes. Dieses Element kann nicht erklärt, sondern lediglich angedeutet werden. An diesem Morgen war es Antonis Antypas' Stimme, die dieses Besondere, die unerklärbare Botschaft transportierte”.
Karaindrou war beeindruckt und begann umgehend, am Klavier zu komponieren. Sie wollte diese besondere Stimmung festhalten und in musikalische Ideen umsetzen, die sowohl die Ahnung des Vergangenen, als auch die Bedeutung des Gegenwärtigen im Blick hatten. Sie las Euripides im Original, imaginierte Stimmungen, integrierte alte Instrumente in ihre Klangvorstellung. Lyra, Kanonaki, Ney, Santouri, Harfe, Outi, archaische Töne näherten sich und wurden zum Teil der Komposition. Sie vermengten sich mit den Stimmen des Frauenchores und der Solisten, die ihre Klagen vorbrachten. Schließlich entstand über ein Jahrzehnt hinweg ein Bühnenstück, das unter der Leitung von Antonis Antypas am 31. August 2001 im antiken Freilufttheater von Epidaurus uraufgeführt wurde.
Es wurde ein ergreifendes Erlebnis, eine Aufführung von entrückender Größe, die allen Beteiligten in Erinnerung blieb. “Troyan Women” ist der Nachhall des Ereignisses aus CD, die musikalische Essenz des außergewöhnlichen Moments. Die Aufnahmen wurden wenige Wochen vor der Premiere eigens in Athen produziert und vergegenwärtigen, mit welch immenser Eindringlichkeit Karaindrou klangdramaturgische Spannung zu gestalten vermag. Das ist zeitgenössische griechische Musik auf den Fundamenten einer Tradition, die nach mehr als zwei Jahrtausenden noch immer zu berühren vermag.