Grigory Sokolov | News | Das Wesen der Werke – Grigory Sokolovs neues Live-Album

Das Wesen der Werke – Grigory Sokolovs neues Live-Album

Grigory Sokolov
© Anna Flegontova
06.05.2020
Jedem, der das Glück hatte, Grigory Sokolov im Konzert zu erleben, wird die Besonderheit dieses großen Pianisten in Erinnerung sein. Wie er die Bühne betritt: ohne einen Blick zur Seite, auf den Flügel zueilend. Wie er, nach einer knappen Verbeugung, den tosenden Auftrittsapplaus kaum abwartend, auf dem Klavierhocker Platz nimmt , um nur endlich beginnen zu können. Wie er sich von der Welt draußen verabschiedet, eintauchend  in die seine, in die Welt der Musik.
Seit Jahrzehnten eilt ihm der Ruf des Außerordentlichen, des Tastenmagiers voraus. Und es ist nicht nur sein Spiel, das diese Magie verströmt. Es ist zugleich das atemberaubende Erlebnis, Zeuge zu werden, wie Sokolov das Wesen der Werke erspürt, wie sie ihn an Anspruch nehmen, ihn verlangen, wie er sie schließlich freigibt, mit enormer Intensität und immer mit diesem Ausdruck von Demut vor dem Gedankenkosmos ihrer Schöpfer.

Nur der Moment zählt

Grigory Sokolov, der vor wenigen Wochen, am 18. April 2020 seinen 70. Geburtstag feierte, ließ mit seiner neuen Veröffentlichung lange auf sich warten. Ohnehin nicht an Studioaufnahmen interessiert – nur der gegenwärtige Moment zählt, in dem seine Musik entsteht  und verklingt – lässt er zu, dass seine Konzerte mitgeschnitten werden, deren Repertoire, akribisch vorbereitet, er immer neu zusammenstellt. Aus den jährlich etwa 10 bis 15 mitgeschnittenen Recitals wählt er Stück für Stück jene aus, welche es letztlich auf den Tonträger schaffen. So auch bei dem nun endlich vorliegenden Doppelalbum mit einer Auswahl von Liveaufnahmen aus drei Recitals, die er im Sommer 2019 gab, in denen er Beethoven und Brahms seine Aufwartung machte. Die erste Hälfte des Doppelalbums ist Beethoven gewidmet und Sokolov beginnt sie mit der letzten der “3 Sonaten” op. 2 in C-Dur, die Beethoven 1796 veröffentlichte. Während die Aufnahme dieser Sonate im Auditorio de Zaragoza entstand, wählte Sokolov den Mitschnitt seines Konzertes beim Klavier-Festival Ruhr im Großen Saal der Historischen Stadthalle Wuppertal aus, wo Beethovens Bagatellen op. 119 mitgeschnitten wurden. Jede ein Kleinod für sich entstanden die “Kleinigkeiten”, wie Beethoven selbst sie in aller Bescheidenheit nannte, in der Zeit von 1820 bis 1822, just zu jener Zeit, da Beethoven auch an seinen Klaviersonaten op. 110 und op.111 arbeitete.
Sokolov unterscheidet bei den Sälen nicht nach groß oder klein, sondern danach, ob sie seine Musik vermitteln, sie tragen. Für die zweite Hälfte des Albums mit den beiden berührenden Klavierzyklen opp. 118 und 119, die der alternde Johannes Brahms während der Sommermonate im Jahre 1893 in Bad Ischl als eine Art Rückschau komponiert hatte, eine spezielle Aufnahme. Sie entstand in einer kleinen, gerade mal 250 Leute fassenden Kirche San Bernardo in Rabbi, einem kleinen Ort in Norditalien, nahe Südtirol. Es ist geradezu aufregend, neben dem Erleben der verschieden, innig vorgetragenen Stücke auch die akustischen Eigenheiten der drei Säle und der verschiedenen Instrumente verfolgen zu können.

Zugaben – Die Krönung der Konzerte

Das neue Album von Grigory Sokolov enthält, sicher sehr zu Freude alle seiner Anhänger, auch den Live-Mitschnitt eines Konzerts auf DVD, das der Pianist am 31. Mai 2017 in Turin spielte. Auf dem Programm dieses Konzertes stand etwa die Klaviersonate Nr. 13 in C-Dur,  KV 545, die verspielte so genannte “Sonate facila”. Am 26. Juni 1788 trug Mozart sie in sein “verzeichnüss aller meiner Werke” mit der Bemerkung ein: “eine kleine klavier Sonate für anfänger”.
Der programmatische Bogen dieser Veröffentlichung wird auch dadurch erkennbar, dass Sokolov sich für  die beiden späteren Klaviersonaten Beethovens entschied, die No. 27, op. 90 und schließlich die letzte, die Erzherzog Rudolph gewidmete Klaviersonate No. 32 op. 111.
Fast schon rituell ist das Procedere der Zugaben, mit denen Sokolov seine Konzerte bekrönt. Meist sind es ihrer sechs oder sieben, die in inhaltlicher Beziehung zu den Hauptwerken des Abends stehen. Auch ihre Auswahl für diese Veröffentlichung folgt einem genauen musikalischen Kalkül. Rameau, Schubert, Debussy und Rachmaninov – weiter geht der Bogen kaum zu spannen.
Das Bedauern darüber, dass die kommenden Tourdaten des Meisters, den besonderen Umständen geschuldet, entfallen müssen, wird durch diese Veröffentlichung zumindest ein wenig gelindert.

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