Live-Alben von Grigory Sokolov genießen in der Klassikwelt Kultstatus. Kein anderer Pianist versteht sich so gut darauf, den poetischen Augenblick auszukosten, sich der Musik spontan hinzugeben und ihr direkt auf der Bühne Leben einzuhauchen. Studio-Produktionen und Auftritte mit Orchester liegen für den Starpianisten lange zurück. Sokolov liebt den Moment des Musizierens und er will das Klavier ganz, ohne Begleitung, mit all seinen klanglichen Facetten.
Fünf großartige Live-Alben sind bereits erschienen, seit Sokolov 2014 bei Deutsche Grammophon unterschrieb, das Letzte vor zwei Jahren mit flirrenden Haydn-Interpretationen. Jetzt präsentiert Deutsche Grammophon sein neuestes Sokolov-Projekt, diesmal mit fesselnder Musik von Purcell und Mozart. Das Live-Doppelalbum besteht aus Mitschnitten, die im Sommer 2023 bei gefeierten Auftritten des Pianisten in den spanischen Städten San Sebastián und Santander entstanden sind.
Purcell und Mozart
Die beiden Darbietungen stecken voller Überraschungen und Pointen. Musikalische Korrespondenzen zwischen Purcell und Mozart verstehen sich nicht von selbst. Die beiden Komponisten sind in vollkommen anderen Lebenswelten aufgewachsen und komponieren mit einem anderen Gestus. Mozart, der Rebell, der sich von den Erwartungen der Herrschenden zu lösen beginnt, kann als ein früher moderner Künstler gelten. Er komponiert schon freisinnig und schafft sich seine eigene Welt.
Purcell wächst als Chorknabe der Chapel Royal auf, wo er später auch als Organist arbeiten wird, neben seiner Tätigkeit an der Westminster Abbey. In seiner Musik setzt er aber so besondere Akzente, dass er den Rahmen seiner geistlichen Herkunft sprengen wird. Sein Einfluss reicht bis zu Komponisten der zeitgenössischen Musik wie Benjamin Britten, Peter Maxwell Davies oder Michael Nyman.
Stimmungspoetische Korrespondenzen
Sokolov verbindet die beiden ungleichen Tonschöpfer auf einer stimmungspoetischen Ebene. Die tänzerische Leichtigkeit und der motivische Reichtum in Mozarts B-Dur-Klaviersonate (K. 333) verbinden sich, genau wie die sanfte Melancholie im visionären h-Moll-Adagio (K. 540), beinahe organisch mit den drei Suiten von Purcell, die Sokolov neben der Chaconne in g-Moll (ZT 680) und einigen berückend schönen Ostinati, Melodien und Tänzen des “Orpheus Britannicus” zum Besten gibt.
Sokolov weiß eben wie kein Zweiter Programme wie aus einem Guss zu gestalten. Dazu gehören auch seine legendären Encores, die er diesmal mit Werken von Rameau, Chopin und dem von ihm schon oft, aber immer wieder neue klingenden Präludium in e-Moll (BWV 855) aus Bachs Wohltemperiertem Klavier in der Bearbeitung von Siloti bestreitet. Als Highlight des Live-Doppelalbums darf aber Mozarts Adagio in h-Moll gelten. Sokolov birgt mit seinem glasklaren Ton den modernen Charakter des Stücks, das mit seinen dissonanten Vorhalten, seiner dichten Chromatik und seiner irritierend ruhelosen Atmosphäre weit in die Zukunft vorausweist.