Der Mann hat Zauberhände. Sie schmiegen sich so geschickt den Klaviertasten an, dass man sie für einen Teil des Instruments halten könnte. Wenn sich
Grigory Sokolov ans Klavier setzt und die ersten Töne spielt, dann dauert es oft nur wenige Minuten, bis der Meister und das Klavier zu einer Einheit verschmelzen. Der Körper des Pianisten schwingt langsam mit. Er zeigt an, wie der Pianist von seiner überwältigenden Klangwelt selbst ergriffen wird.
Seele des Klaviers
Es dürfte nur wenige Pianisten geben, die eine so enge Beziehung zu ihrem Instrument haben wie Grigory Sokolov. Für die meisten Pianisten bleibt das Klavier ein Musikinstrument, das man mehr oder weniger gut beherrschen kann. Anders Sokolov. Für ihn lebt das Klavier. Es atmet, hofft und leidet: “Man braucht Stunden”, so Sokolov gegenüber Jessica Duchen, “um ein Klavier zu verstehen, denn jedes Instrument hat seine eigene Persönlichkeit, und wir spielen zusammen.” Das Klavier will verstanden werden. Erst dann gibt es seine Klangschönheit preis, und um diese weiß Sokolov wie kein Zweiter. Er kennt den enormen Farbreichtum der Töne und die ebenso zärtlichen wie heftigen Möglichkeiten, die das Klavier bietet. Dafür lieben ihn seine Fans. Dafür reisen sie ihm meilenweit zu seinen Konzerten nach, und deshalb sind sie jetzt erleichtert, dass endlich wieder ein Album von ihm erschienen ist.
Fulminanter Auftritt
“The Salzburg Recital” ist der Live-Mitschnitt eines fulminanten Auftritts, den der Pianist im Jahre 2008 bei den Salzburger Festspielen hinlegte. Ganz in sich gekehrt, durchschritt er hier einen musikalischen Kosmos, der von dem barocken Komponisten Jean-Philippe Rameau bis zu dem Spätromantiker Alexander Skriabin reichte. Doch historische Entfernungen sind ein Katzensprung für den russischen Giganten, der die Distanzen durch sein charakteristisches Spiel zu überbrücken weiß. Die harmonische Klarheit und Sokolovs Fähigkeit, mit äußerster Diskretion Akzente zu setzen, machen seine Konzerte zu einzigartigen Gesamtkunstwerken. Dabei braucht Sokolov keine großen Gesten. Er ist nicht der Mann, der es krachen lässt. Doch gerade durch seine Zurückhaltung berührt er. Er führt seinem Publikum vor, dass die Schönheit der Klaviermusik in den Harmonien verborgen liegt und dass die ganz großen Gefühle bereits mit äußerst sparsamen Mitteln geweckt werden können.
Wahrhaft groß
Vielleicht hat er sich deshalb als Auftakt des Salzburger Konzerts zwei Klaviersonaten von Mozart ausgesucht, die durch überraschende Harmonien und subtile Vorwegnahmen romantischer Stimmungsgebilde hervorstechen. Sokolov spielt die beiden Mozart-Sonaten Nr. 2 und Nr. 12 in F-Dur (KV 280 und KV 332), und er tut dies ebenso tänzerisch wie transparent. Im Adagio der zweiten Sonate beginnt er sacht-melancholisch zu träumen, und wir lernen Mozart von seiner tiefsinnigen und überaus modernen Seite kennen. Man kann dabei schon an Brahms denken und mit ein bisschen Phantasie sogar an Skriabin, dessen Poèmes Nr. 1 und Nr. 2 (op. 69) “der Zauberer” (Fono Forum) später in seinen atemberaubenden Zugaben spielen wird.
Im Zentrum des Salzburger Konzerts stehen die 24 Préludes von Chopin (op. 28), in denen Sokolov seine Liebe für Bach und seine romantischen Interessen ideal verbinden kann. Hier schwelgt er in den berückend schönen Melodien Chopins und arbeitet zugleich glasklar die harmonische Strenge des polnischen Komponisten heraus. Mit den entrückten Poèmes von Skriabin, zwei meditativen Mazurken von Chopin und dem anmutigen Rondo Les Sauvages von Rameau steuert Sokolov auf den Höhepunkt des Konzerts zu: Bachs Choral Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ in der berühmten Bearbeitung von Busoni. Hier stockt dem dankbaren Hörer dann endgültig der Atem – wenn dies nicht schon vorher mehrfach passiert ist.