Wäre Karl Richter 1951, als er Leipzig nach seinem Studium bei Karl Straube und Günther Ramin verließ, nach Arnstadt gegangen, oder nach Köthen, nach Berlin oder Eisenach – stattdessen schickte sich der damals erst 25 jährige jedoch ausgerechnet im katholisch geprägten Süddeutschland an, hier die traditionsreiche sächsisch-protestantische Musiktradition fortzupflanzen und gedeihen zu lassen. Kaum vorstellbar, aber im katholisch geprägten München stieß Karl Richter mit seinen Ambitionen in ein Vakuum: Auch wenn es jährliche Aufführungen der “Matthäus-Passion” am Karfreitag schon seit langem gegeben hatte, waren dem Publikum weite Teile des Bach’schen Werks, insbesondere die Motetten und Kantaten, nahezu unbekannt. Es sollte nicht lange dauern, bis der detailversessene und mit unerschütterlichem musikalischen Sendungsbewusstsein ausgestattete Richter mit dem 1953 gegründeten Münchner Bach-Chor und dem Münchner Bach-Orchester zwei Ensemble formte, mit denen er den Ruf Münchens als eine Bachstadt etablierte, obwohl der große Bach selbst nie seinen Fuß in diese Stadt gesetzt hatte. Die zahllosen Konzerte mit Chor und Orchester, die internationalen Verpflichtungen als Organist, Cembalist und später als Dirigent wurden begleitet von einer äußerst regen und intensiven Aufnahmetätigkeit für Archiv Produktion, Decca und die Deutsche Grammophon. So entstand ein Werkkatalog, der damals seinesgleichen suchte.
Jetzt, vier Jahrzehnte nach seinem Tod, wird er mit der opulent ausgestatten Karl Richter Box einem großen, weltweit ansässigen Richter-Publikum in seiner ganzen Breite zugänglich gemacht. Die Box lässt keine Wünsche offen: Auf insgesamt 97 CDs sind alle Aufnahmen für Archiv Produktion, DG und Decca enthalte, die Karl Richter als Organist, Cembalist, Kammermusiker, Continuo-Spieler und schließlich als Dirigent großer Orchester- und geistlicher Chorwerke mit seinem Münchner Bachchor und dem Münchner Bachorchester zeigen. Außerdem enthalten die drei Blu-ray Audios neben den beiden Passionen, der h-Moll-Messe und dem Weihnachtsoratorium auch das gesamte Kantatenwerk Johann Sebastian Bachs in audiophiler Qualität. Die Edition spiegelt die ganze musikalische Bandbreite wider, die das Wirken Richters ausmachte: vor allem Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel – dessen Oratorien, darunter der “Messias” in der Aufnahme von 1965, sind ebenso enthalten wie Beethovens C-Dur-Messe op. 86, ferner Heinrich Schütz, Joseph Haydn.
Die Box ist ein Musikarchiv im besten Sinne, denn allein von der “Matthäus-Passion” gibt es drei Aufnahmen mit unterschiedlichen Solistenensembles. Der Vergleich jener von 1959 mit dem jungen Fischer-Dieskau, Kieth Engen, Irmgard Seefried und Hertha Töpper, und der 1980 ebenfalls für die Archiv-Produktion entstandenen letzten mit Edith Mathis, Janet Baker, Peter Schreier und Matti Salminen, ist bewegend. Auch Richters erste Operngesamtaufnahme durfte nicht fehlen: Glucks “Orfeo und Euridice” aus dem Jahre 1982 mit Fischer-Dieskau, Edda Moser und Gundula Janowitz. Ein besonderes Tondokument sind die als Mitschnitte enthaltenen Proben Karl Richters zur zweiten Aufnahme des “Weihnachtsoratoriums” mit Fritz Wunderlich, Gundula Janowitz und Christa Ludwig. Weiterhin enthält die Box einige internationale Erstveröffentlichungen auf CD: einen Mitschnitt aus der Basilika Ottobeuren von Regers “Fantasie und Fuge über B-A-C-H”, einige Bach-Concerti, nämlich BWV 1060, 1043 und 1064R mit dem Münchener Bach-Orchester, sowie die Flötensonaten BWV 1033–35 und Handels Flötensonaten mit Hans-Martin Linde und Richter am Cembalo. Diese Werke werden ebenfalls erstmals digital verfügbar sein. Insgesamt verspricht die Box, die zudem durch ein 176 Seiten starkes, reich bebildertes Booklet ergänzt wird, etliche Stunden genussvollen Eintauchens in die musikalische Welt dieses bedeutenden Musikers.
Zu seiner musikalischen Welt gehörte auch das Cembalo. Sämtliche Aufnahmen spielte Richter auf einem zweimanualigen Instrument, Modell “Bach”, aus der Werkstatt des Bamberger Instrumentenbauers Neupert. Sein sehr spezieller und voller Klang charakterisiert die Aufnahme der “Goldberg-Variationen” auf besondere Weise. Und natürlich ist Richter an seinem Lieblingsinstrument, der Orgel zu erleben. Mit 23 Jahren hatte er als Leipziger Thomasorganist regelmäßig Bachs Orgel gespielt. “An der Orgel”, sagte er, “erfährt ein Interpret die entscheidenden Voraussetzungen, um Bachs Werk in seiner Gesamtheit zu begreifen.” Und genau darin lag zeitlebens Richters Bemühen. Es gelang ihm mit wachsendem Erfolg Bachs Werk in seiner Gesamtheit zu begreifen: Bei seinen Konzerten in Wien etwa wurde er als der bedeutendste authentische Bachinterpret nahezu vergöttert. Es lohnt sich, unter diesem Aspekt seine Aufnahme des wohl populärsten Werkes für dieses Instrument anzuhören: die Toccata und Fuge in d-Moll. Richter übrigens blieb trotz seiner inzwischen riesigen Popularität und all seiner internationalen Verpflichtungen Kantor in der Kirche St. Markus in München, und das nicht nur aus bloßer Anhänglichkeit an die sächsische Kantorentradition, der er entstammte. “Ich kann mir einen Sonntag ohne auf der Orgelbank zu sitzen nicht vorstellen”. Als die Markuskirche in München 1967 auf der Ostempore eine neue Orgel erhielt, wurde sie nach Karl Richters Vorstellungen gebaut.