Als Karl Richter in den 1950er Jahren seine frühesten Aufnahmen der geistlichen Musik von Johann Sebastian Bach machte, wurde sein disziplinierter und vitaler Ansatz als Offenbarung gefeiert. Doch angesichts der langjährigen Verbindung Richters zu dem von ihm gegründeten Münchener Bach-Chor und -Orchester sollte ein entscheidender Aspekt seines künstlerischen Werdegangs nicht vergessen werden: die Ausbildung zum Kapellmeister in den 1940er Jahren.
Karl Richter war Schüler von drei großen Kantoren, Karl Straube und Günther Ramin in Leipzig und Rudolf Mauersberger in Dresden gewesen und wurde 1947 im Alter von 21 Jahren zum Organisten der Thomaskirche ernannt, in der Bach selbst mehr als ein Vierteljahrhundert lang als Kantor gewirkt hatte. Vor diesem Hintergrund überrascht es kaum, dass Richters Bezug zur lutherischen Theologie und Liturgie zugleich profund und tief empfunden war.
Richters Aufnahmen von Bachs Passionen, Oratorien und Kantaten erstreckten sich über einen Zeitraum von fast 30 Jahren. Er begann als Continuo-Spieler unter Ramin, leitete dann erste eigene Aufführungen und gehörte Ende der 1950er Jahre zu den Aushängeschildern der Archiv Produktion, dem Ableger der Deutschen Grammophon für Alte Musik. Im Sommer 1958 machte Richter die erste von zwei Aufnahmen der Bachschen Matthäus-Passion für Archiv und im folgenden Jahr zwei herausragende Schallplatten mit Bachkantaten.
Bereits diese Arbeiten sicherten ihm die Reputation einer gewichtigen neuen Stimme unter den Interpreten der Musik Bachs. Während der 1960er Jahre machte Richter viele weitere Aufnahmen von Bachkantaten wie auch des Weihnachtsoratoriums. Er realisierte je eine Einspielung der Messe in h-Moll und der Johannes-Passion.
Legendärer Kantaten-Zyklus
Karl Richter erreichte den Zenit seines Schaffens als aufnehmender Künstler in den frühen 1970er Jahre, als ihm die Archiv Produktion die Möglichkeit gab, eine Kantate für jeden Sonntag und Festtag des lutherischen Kirchenjahres aufzunehmen. Im Rahmen des Projekts nahm er mit dem Münchener Bach-Chor und Bach-Orchester eine Vielzahl von Kantaten neu für den Archiv-Zyklus auf. Die Arbeit erfüllte Richter, der die Kantaten einmal als seinen eigentlichen Lebensinhalt bezeichnet hatte, mit besonderem Stolz und tiefer Befriedigung.
Am deutlichsten tritt hier, im Herzen von Bachs kreativer Welt, Richters Vermögen zutage, die einzelnen Elemente seiner Kunst zu einem kohärenten Ganzen zu verschmelzen: den akribisch ausgebildeten gemischten Laienchor, die handverlesenen instrumentalen Obligato-Spieler (unter ihnen Flötist Aurèle Nicolet, die Oboisten Edgar Shann und Manfred Clement und Geiger Otto Büchner) und die herausragende Auswahl von Solisten, denen er stets größtes künstlerisches Vertrauen und unerschütterliche Loyalität entgegenbrachte.
Der gesamte Kantaten-Zyklus, den Karl Richter zwischen 1968 und 1976 für die Archiv-Produktion aufgenommen hat, ist nun erstmals in einer limitierten Edition erhältlich. Die 26CD-Box beinhaltet 75 Kantaten und ein umfangreiches Booklet mit sämtlichen Texten. Zu den Solisten zählen die Sopranistinnen Ursula Buckel und Maria Stader, die Altistinnen Ana Reynolds, Julia Hamari und Hertha Töpper, die Tenöre Peter Schreier und Ernst Haefliger, Bassbariton Dietrich Fischer-Dieskau und der Bass Kieth Engen.