Karl Richter | News | Im innersten Zentrum Bachscher Musik – Das "Weihnachtsoratorium" mit Karl Richter

Im innersten Zentrum Bachscher Musik – Das “Weihnachtsoratorium” mit Karl Richter

Karl Richter
© Werner Neumeister
15.10.2020
Das “Weihnachtsoratorium” dürfte neben den beiden Passionen Bachs wohl bekanntestes Opus sein. Dabei ist, auch wenn die Bezeichnung “Oratorium” von Bach selbst herrührt, der Name des Werks eigentlich irreführend, denn es gibt keine für das Oratorium charakteristische biblische Handlung. Stattdessen haben wir es mit einer Sammlung aus sechs Kantaten zu tun, deren Zusammenhang darin besteht, dass sie dem gleichen Thema gewidmet sind und die Rezitative gewissermaßen einen vollständigen Bericht von der Geburt Jesu Christi nach Lukas und Matthäus geben. Die Arien haben keinen, wie sonst üblich, eine Handlung kommentieren Charakter. Es sind lyrische Betrachtungen und Kontemplationen – Besinnung, Andacht, Bekenntnis.  Den Plan für diese Kantatensammlung hatte Bach schon 1733 gefasst, komponiert hat er sie dann 1734 für die Weihnachtszeit des Jahres. Bach selbst führte das “Weihnachtsoratorium” auch nicht zusammenhängend, sondern an den sechs weihnachtlichen Festtagen auf, für die sie bestimmt waren.
Karl Richter hat Bachs “Weihnachtsoratorium” zweimal aufgenommen, das erste Mal im Jahre 1955. Im Jahr 1951 übernahm Karl Richter die Kantorenstelle an der Markuskirche und es begann eine bis dato beispiellose Bachpflege in München. Welch eine gewaltige Entwicklung als Dirigent und Chorleiter Richter in diesen wenigen Jahren vollzogen hatte, das spiegelt die 1965 entstandene zweite Aufnahme des “Weihnachtoratoriums” für die “Archiv Produktion” wider. Zwischen ihr und der ersten liegen Welten – nicht nur was die Tonqualität der Aufnahmen angeht. Der Bachchor hatte inzwischen deutlich an Strahlkraft gewonnen, war differenzierter, klarer und sicherer im Ton. Wesentlichen Anteil an der packenden und zugleich sehr emotionalen und berührenden Wirkung hatten auch Richters inzwischen geänderte Tempoauffassungen. Auch sein Verzicht auf die frühere Theatralik, auf dynamische und rhythmische Extreme in den Chören und Instrumentalsätzen lässt diese Aufnahme als eine neue Station seiner Bachpflege erscheinen.
Was diese zweite Aufnahme Karl Richters besonders hörbar macht, ist die Ausgewogenheit und musikalische Einbettung der herausragenden Solisten. Etwa bei der von Christa Ludwig gesungenen Arie “Schlafe mein Liebster, geniesse der Ruh'” – was für eine ruhig und innig fließende Altstimme, die mit der sie colla parte begleitenden Flöte verschmilzt.
Gundula Jannowitz' glockenheller Sopran, bei aller Schlichtheit doch aus der Seele sprechend, verleiht nicht nur der Arie “Flösst, mein Heiland, flösst dein Namen” einen ganz besonderen Klang. Ein Glücksgriff für die Besetzung war der Bassist Franz Crass, der mit seiner unbändigen Lust am Singen und seinem sprichwörtlichen langen Atem die Arie “Großer Herr und starker König” als eine besonders eindringliche Lobpreisung gestaltet. Fritz Wunderlichs Interpretation des Evangelisten und vor allem seine Arien, etwa “Frohe Hirten, eilt, ach eilet”, ließ seinerzeit all jene aufhorchen, die den Tenor vorrangig mit dem Operettenrepertoire in Verbindung brachten. Diese Aufnahme sollte eines seiner letzten musikalischen Zeugnisse werden – nur wenige Monate später starb Wunderlich viel zu früh und auf tragische Weise.
Für instrumentalen Glanz sorgt Maurice André, dessen Bachtrompete, trotz der enormen Höhe weit von jedem blechernen Klang entfernt, federleicht über dem homogenen Klang des Bachorchesters liegt.  
Der Musikkritiker Karl Heinrich Ruppel hatte 1965 über eine Aufführung einer “Matthäus-Passion” durch Karl Richter geschrieben: “Es wird deutlich, dass Karl Richter bei aller dramatischen Intensität die Bedeutung des Werkes in den Vordergrund stellt. So gelangt er ins innerste Zentrum der Bachschen Musik, wo Mystik und Ratio zur Einheit werden.” Genau das dokumentiert auch die jetzt auf Vinyl wiederveröffentlichte Aufnahme des Bach’schen “Weihnachtsoratoriums” mit Karl Richter auf beeindruckende Art und Weise. Sie erscheint als 3-Vinyl-Album mit originalem Cover-Artwork in einer 180 g-Pressung. Die Aufnahme ist ebenfalls der Teil der am 6. November erscheinenden großen Gesamtedition aller Aufnahmen von Karl Richter auf Deutsche Grammophon auf 97 CDs und 3 Blu-ray Audios.
Für Karl-Richter-Bewunderer gibt es ein noch besonderes digitales Highlight: das Cembalokonzert d-Moll BWV 1052 ist ab sofort zum allerersten Mal für Download und Streaming abrufbar.

Mehr Musik von Karl Richter