Mantren sind repetitive meditative Formeln und Sprüche, die in der indischen tantriistischen Yogi-Philosophie als Konzentrationsübung dazu dienen, Bewusstsein zu erweitern und spezielle geistige Kräfte zu entwickeln. Ein grundlegender Gedanke des Tantriismus ist, dass “alles eins ist und das jeder Bestandteil von etwas einen Einfluß aus das Ganze hat”.
Dieser Gedanke ist ähnlich auch in der auf der Neuen Wiener Schule beruhenden Seriellen Musik zu finden, die eine der Grundlagen Stockhausens Schaffens bilden. In “Mantra” (komponiert 1970) verbindet Stockhausen die europäische Kompositionstechnik der Seriellen Musik mit der tantriistischen Philosophie. Dies geschieht zum einen recht oberflächlich, indem er europäisches Instrumentarium (Klavier und kleine Becken) mit asiatischem (kleine Holztrommeln) verbindet und durch den Einsatz elektronischer Mittel eine klangliche Synthese aus Beidem herstellt, zum anderen indem er meditationsfördernde rhythmische Mantra-Formeln entwickelt und sich das gesamte Werk hindurch seriell-streng an sie hält: Es wird kein Ton weggenommen, keiner hinzugefügt. Die Mantren werden lediglich nach seriellen Prinzipien gereiht. Stockhausen, der von asiatischen Religionen sehr beeinflusst ist, sagte zu dem Werk: “Natürlich ist die einheitliche Konstruktion von Mantra eine musikalische Miniatur der einheitlichen Makrostruktur des Kosmos und sie ist ebenso eine Vergrößerung ins akustische Zeitfeld der einheitlichen Mikro-Struktur der harmonischen Schwingungen im Ton selber.”
Der Pianist Jürg Wyttenbach und die Pianistin Janka "verbinden das Analytische mit dem Theatralischen der musikalischen Gestik, vor allem aber finden sie eine frappierende innere Spannweite, die “Mantra” in die Tradition der großen Klavierzyklen und Variationswerke des neunzehnten Jahrhunderts stellt, angereichert durch die “unerhörte” Vielfalt, welche die Elektronik aus dem “natürlichen” Klang des gerade gespielten Klaviers als schöpferisches Element zusätzlich entbindet."(Gerhard Rohde)