„Neharót“ ist eine Sammlung zeitgenössischer Elegien. Trauer und Sehnsucht, Erinnerung und Passion liegen eng beieinander und finden ihr Zentrum in den Klängen der Viola von Kim Kashkashian. Dabei nutzt die amerikanische Bratschistin armenischer Abstammung alle Freiheiten ihres Instruments, sowohl die der eigenen spieltechnischen Kompetenz wie auch die des im Vergleich zur Geige weitmaschig geknüpften Traditionsnetzes, das weit weniger Festlegungen bereit hält als andere Sparten und Überlieferungen. „Neharót“ führt Kim Kashkashian von einer melodischen Klangmeditation Betty Oliveros über zarte und sinfonische armenische Impressionen Tigran Mansurians bis hin zu Eitan Steinbergs kammermusikalischem Finale für Viola und Streichquartett. Das Album zählt zusammen mit Thomas Zehetmairs sensationeller Interpretation der „24 Capricci für Solo-Violine“ von Niccolò Paganini und András Schiffs Beschäftigung mit den „Partiten BWV 825–830“ von Johann Sebastian Bach zu den Schwerpunkten des Musikherbstes bei ECM New Series.
Es ist eine weite Reise. „Neharót Neharót“, der titelgebende Auftakt des Albums, stammt aus der Feder der israelischen Komponistin Betty Olivero. Ausgebildet in Tel Aviv und Yale, inspiriert und zwischenzeitlich unterrichtet von Luciano Berio, hat sie sich seit den neunziger Jahren als wichtige Stimme der internationalen Komponistenriege etabliert und lehrt inzwischen als Associate Professor für Komposition an der Bar-Ilan-Universität von Tel Aviv. „Neharót Neharót“ entstand 2006/7 unter den Eindrücken des menschlichen Leids, das die kriegerischen Auseinandersetzungen in Oliveros Heimatland tagtäglich hervorrufen. Die Mehrdeutigkeit des Titels, der sowohl das hebräische Wort für „Fluss“, wie das für „Tränen“ und für „Lichtstrahl“ andeutet, somit Facetten des Leids, der Trauer wie auch der Hoffnung in sich vereint, findet ihr Pendant in der Vielgestaltigkeit der Komposition, die abstrakte Momente mit kantablen Passagen, klare Traditionsbezüge etwa auf Monteverdis Melodienwelt und individuelle Klangfarben zu einer bewegenden Mischung aus Vergangenheit und Gegenwart vermischt.
Ebenfalls klar in der Tradition verankert sind die drei Kompositionen von Tigran Mansurian, die Kim Kashkashian und der Komponist persönlich vorstellen. Da ist zum einen „Tagh for the Funeral of the Lord“, ein auf einem armenischen Gesangsstück basierendes Intermezzo, das Mansurian für die Viola-Spezialistin und die Perkussionistin Robyn Schulkowsky bearbeitet hat. Das kurze Wiegenlied „Oror“ seines Landsmanns Komitas dient als Überleitung zum dreisätzigen orchestralen Widmungsstück an Kashkashian „Three Arias (Sung out the window facing Mount Ararat)“, mit dem Mansurian das musikalische Erinnern an eine Zeit pflegt, als die alten armenischen Stätten des heiligen Berges noch nicht durch eine türkische Landesgrenze abgetrennt waren. Das Programm des Albums schließt schließlich mit einer Bearbeitung der ursprünglich für Flöte, Klarinette, Streichtrio und Klavier geschriebenen Komposition des Leiters der Musikabteilung der Universität Haifa Eitan Steinberg, der wiederum chassidische Elemente einer Vertonung eines Gedichts auf eine rituelle Mahlzeit des Sabbats in kammermusikalische Form brachte. Unter der Ägide von Kim Kashkashian entwickelt sich diese Reise durch die Traditionszusammenhänge an der Grenze von Orient und Okzident zu einem faszinierend transparenten und zugleich hoch emotionalen Tagebuch der Klangfeinheiten, das die bereits vielfach preisgekrönte interpretatorische Kompetenz der Weltklassemusikerin zu einem weiteren Glanzpunkt führt.
Ähnlich wie Kim Kashkashian zählt der Geiger Thomas Zehetmair längst zu den Autoritäten seines Fachs. Und er beschränkt sich schon lange nicht mehr auf sein Instrument allein. Er hat viel dirigiert in den letzten Jahren, er hat großartige und hoch gelobte Quartett-Aufnahmen vorgelegt, und als Solist hat er Mozart mit ebenso feinem Stilempfinden interpretiert wie Eugène Ysaÿe oder das Violinkonzert von Heinz Holliger. Doch für die größte Herausforderung an den Geiger schlechthin hält Zehetmair nach wie vor Paganinis 24 Capricen: „Diese Stücke sind keine Etüden und keine emotionslose Pyrotechnik, sie sind improvisierte Charakterstücke voller Poesie und Fantasie.“ Und deshalb hat er sich ihrer in einer neuen Näherung angenommen. Die Aufnahmen der „Capricen“ entstanden im Dezember 2007 in der Propstei St.Gerold und dokumentieren einen Weltklassekünstler, der Paganinis Kern-Oeuvre faszinierend empathisch zu deuten vermag.
Der Pianist András Schiff wiederum bewegt sich musikalisch weiter in die Vergangenheit zurück. Nach seinem viel gelobten Beethoven-Zyklus kehrt er nun zu Bach zurück: Bei einer Matinée im Neumarkter Reitstadl nahm Schiff 2007 die großartigen sechs Partiten auf, die Bach selbst 1731 als allererstes seiner Werke publizierte, weil er eine einzigartige Synthese der traditionsreichen Suitenform in ihnen verwirklicht sah. Verglichen mit seiner Londoner Studioaufnahme von 1983 demonstriert die neue Version Schiffs interpretatorische Entwicklung hin zu mehr Freiheit, Klangreichtum und der schieren Lust an der Phrasierung. Eingeflossen sind da nicht nur die Erfahrungen des Pianisten als Dirigent der großen Bach’schen Chorwerke, sondern auch die Selbstverständlichkeit im Umgang mit großen Spannungsbögen, die aus den Erfahrungen unter anderem aus der Beschäftigung mit dem Beethoven-Zyklus resultieren. Eine wunderbare, wesentliche Musik, vorgetragen mit der Kompetenz eines Klavier-Meisters unserer Tage.
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