Von Lyon nach Hannover
Der 1895 in Lyon geborene Meisterpianist spürte das Brodeln der Zeit: das junge Industriezeitalter zwischen Aufbruch und Angst, zwischen großen Hoffnungen und derben Enttäuschungen. Aufgewachsen an der französischen und italienischen Riviera, kommt er als Jugendlicher nach Hannover, wo er bei dem versierten Musikpädagogen Karl Leimer Klavierunterricht erhält. Der Junge ist hochbegabt. Er lernt schnell und prägt in kürzester Zeit einen eigenen Stil aus. Gieseking verbindet technische Raffinesse mit Leichtigkeit. Sein Spiel ist perfekt organisiert. Trotzdem klingt es natürlich. Bei seinem Lehrer hat Gieseking gelernt, dass der Körper ins Klavierspiel hineingelegt werden sollte.
Ein intuitiver Methodiker
Gemeinsam mit Karl Leimer bringt er schließlich eine moderne Klavierschule heraus und arbeitet an einer neuen Methodik des Klavierspiels. Deren Pointe: kein Drill, keine Verrenkungen am Klavier. Die Musik muss fließen. Sie muss vom Pianisten innerlich verstanden worden sein, bevor er sie in schöner, entspannter Manier zur Geltung bringen kann. Das klingt nach intuitiven Fertigkeiten. Eine perfekte Vorbereitung auf romantische und impressionistische Literatur. Aber auf Bach? Kann man so einem barocken Komponisten auf die Spur kommen?
Bach modern: Klare Linien, weicher Anschlag
Es bleibt ein unschätzbares Verdienst von Walter Gieseking, Bachs elektrisierende Modernität entdeckt zu haben. Damit kann er als Vorreiter von Größen wie Rosalyn Tureck oder Glenn Gould gelten, die Bach auf ihre Weise modern, mit schlanker Eleganz darboten. Gieseking tat dies auf seine Weise. Seine Alleinstellungsmerkmale waren der weiche Anschlag, das zügige, kurzweilige Spiel und die poetisch-träumerische Noblesse, die er Bach verlieh. Wie es ihm gelang, bei so viel Zartheit glasklare Harmonien zu produzieren, bleibt sein Berufsgeheimnis. Dabei war ein keineswegs ein Verteidiger von pianistischen Übe-Exzessen: “Der Grad der musikalischen Begabung verhält sich umgekehrt proportional zu der Zeit, die man fürs Üben aufwenden muss”, lässt sich der Meister vernehmen. Das spontane Moment bei gleichzeitiger intuitiver Durchdringung der Materie scheint eines seiner Geheimnisse gewesen zu sein.
Die zwischen 24. Januar und 5. Juni 1950 in wenigen Aufnahmesitzungen entstandenen Mitschnitte wurden im Studio Saarbrücken zu Bachs zweihundertstem Todestag eingespielt. Das Live-Element mit sehr wenigen Takes ist unverkennbar für diese Aufnahme – und macht sie zu etwas ganz Besonderem: Gieseking hat nur sehr wenig Bach aufgenommen, sein Mut zum Risiko und kontrastreichen Spiel ist bemerkenswert, und das Gefühl einem genialen Akt beizuwohnen stellte sich bereits bei zeitgenössischen Hörern ein, die diesen Bach-Zyklus in den höchsten Tönen lobten: “Im Sender erlebte ich ein Wunder: die Aufnahme der ersten 24 Präludien und Fugen … einfach fabelhaft”, äußerte ein Zeuge der Aufnahme (Stewart Gordon). Nach längerer Zeit liegt nun erstmals eine Edition mit diesem interpretationsgeschichtlich bedeutsamen Bach-Zyklus vor.
“Walter Gieseking – Complete Bach Recordings on Deutsche Grammophon” umfasst sieben Tonträger. Alle Aufnahmen wurden frisch remastert. Etliche darunter erscheinen erstmals auf CD bzw. als Download/Streaming-Album.
Die Hüllen der CDs sind dem Cover-Design der Ersterscheinungen nachempfunden. Als Bonus lockt Schumanns Klavierkonzert mit Walter Furtwängler und den Berliner Philharmonikern, eine fulminante Aufnahme von 1948. Das Booklet rundet die Edition gelungen ab. Es umfasst 40 Seiten, enthält einen brandneuen Essay von Giesekings Meisterschüler Frank R. Latino und wartet mit bislang noch unveröffentlichten Fotos des großen Pianisten auf. Besonders reizvoll schließlich: Passagen aus Giesekings Autobiographie, in denen er sein Bach-Spiel reflektiert.