Die Neue Musik hatte in den fünfziger Jahren einen schweren Stand. Das Publikum liebte vor allem die Helden der Wiener Klassik und der deutschen Romantik. Für Experimente war da wenig Platz, und so kam die Neue Musik im Konzertbetrieb fast gar nicht vor.
Musikalischer Eisbrecher
Diese Hindernisse weckten bei vielen jungen Künstlern Gefühle der Revolte und wahren Pioniergeist. Sie machten aus der Not eine Tugend. Wenn es im Konzertbetrieb noch keinen Platz für sie gab, dann musste der Platz eben geschaffen werden, und kein Komponist war in diesem Bestreben entschlossener als Pierre Boulez. Mit “Le Domaine Musical” legte er den Grundstein für eine kulturelle Heimstatt der Neuen Musik. Die Pariser Konzertreihe startete in der Saison 1953/54, und sie avancierte in den Folgejahren zu einer der angesehensten Institutionen der musikalischen Avantgarde. Die Konzerte an der Experimentalbühne des Théâtre Marigny waren ein Geheimtipp, und was sie so attraktiv machte, war nicht zuletzt die überaus raffinierte Dramaturgie, die sich Pierre Boulez ausgedacht hatte.
Wachsende Anziehungskraft
Einerseits bekam man hier Werke alter Meister, wie Monteverdi oder Bach, zu hören. Andererseits wurde man mit Wegbereitern der klassischen Moderne, wie Schönberg oder Webern, beglückt. Und um den enormen Anspruch der Neuen Musik zu untermauern, konfrontierte Boulez sein Publikum zugleich mit eigenen Kompositionen und jüngeren Werken Messiaens, Pousseurs, Stockhausens, Henzes, Nonos u.v.a. Der Geniestreich gelang. Boulez stellte unter Beweis, dass die jungen Komponisten den Vergleich mit der Tradition nicht zu scheuen brauchten. Die wilden Klangexperimente der jungen Meister übten eine wachsende Anziehungskraft auf das Publikum aus. Immer deutlicher trat zum Vorschein, wie reizvoll die Suche nach neuen Klangmöglichkeiten ist.
Verjüngte Moderne
Die jungen Künstler um Boulez hatten den überlieferten Klangkosmos schon eindrucksvoll erweitert, manchmal auch gesprengt. Aber die Zeit stand nicht still. Es ging weiter. Es wurde ununterbrochen komponiert, nachgedacht, verworfen, neu angefangen – bis etwas Gültiges gefunden war. Pierre Boulez prägte die Reihe als Organisator, Dirigent und Komponist. Bis 1967 war er ihr Leiter, und was in diesen Jahren seines Wirkens geschah, kann ohne Übertreibung als dritte Geburt der musikalischen Moderne bezeichnet werden. Nach den impressionistischen Komponisten der Jahrhundertwende und der Zweiten Wiener Schule um Arnold Schönberg gelang es Pierre Boulez mit “Domaine Musical”, einen neuen Pflock einzuschlagen, und dass Deutsche Grammophon dieser ebenso schöpferischen wie musikpolitischen Höchstleistung eine eigene Edition widmet, ist eine passende Ehrengabe zum 90. Geburtstag des Komponisten.
Ergänzte Edition
Bei der limitierten Edition handelt es sich um die erweiterte Neuauflage einer älteren Ausgabe von 2006. Die Neuauflage umfasst 10 CDs, zwei Bonus-CDs mit eingeschlossen. Neu ist unter anderem die sich wundersam in das Ensemble der Moderne einfügende CD-Erstveröffentlichung der feierlichen Bläserschöpfungen Canzone 5 & 3 (Sacrae Symphoniae) des italienischen Spätrenaissance-Komponisten Giovanni Gabrieli (CD 9). Die Aufnahme dokumentiert Boulez' Interesse an harmonisch fein justierter, mehrstimmiger Alter Musik. Ebenfalls neu: eine Aufnahme von Strawinskis urban-pulsierenden Symphonies d’instruments à vent (für 23 Blasinstrumente).
Mit Boulez' surrealer Klangpoesie Le Marteau sans maître findet sich ein rhythmisch mitreißender, früher Klassiker des französischen Komponisten in der Sammlung. Ansonsten: ein regelrechtes Panoptikum der musikalischen Moderne. “Le Domaine Musical. 1956–1967” enthält nicht nur Werke von Boulez und seinen Mitstreitern, sondern auch Schlüsselwerke der klassischen Moderne: bahnbrechende Arbeiten von Debussy, Schönberg und Webern. Das Spektrum reicht von impressionistischen Klanggebilden (Debussys “Syrinx”), über spätromantische Träumereien (“Verklärte Nacht” des frühen Schönberg), bis hin zu rational kalkulierten, seriellen Kompositionen (der späte Schönberg, Webern).
Dadurch ist die Edition auch für Hörer interessant, die noch nicht so vertraut sind mit den Klangwelten der Moderne. Mit der Box verschafft man sich einen guten Überblick über die Musik des 20. Jahrhunderts. Die Studio- und Liveaufnahmen der Edition, die allesamt im Rahmen der legendären Pariser Konzertreihe entstanden sind, decken ein weites Feld ab, und wer sich hierüber detailliert informieren möchte, der sei auf das beigefügte Booklet verwiesen. Es umfasst 112 Seiten und enthält einen unterhaltsamen Einführungsessay aus der Feder des französischen Journalisten Claude Samuel, der auch das stimulierende Interview mit Pierre Boulez führte. Es befindet sich auf der Bonus-CD 10 und ist abgedruckt im Booklet dieser phantastischen Neu-Edition.