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Kein bisschen müde

Pierre Boulez © Harald Hoffmann / DG
© Harald Hoffmann / DG
02.09.2010
Den Geburtstag selbst feierte Pierre Boulez bereits am 26. März des Jahres. Aus diesem Anlass waren zwei Werkeditionen neu aufgelegt worden: seine Einspielungen mit Béla Bartók und Igor Stravinsky, die ihn als feinsinnigen Spezialisten für die Zwischentöne einer Ära dokumentierten. Zum einen markieren sie den Aufbruch in die gestalterische Moderne, zum anderen zählen sie zu Boulez' eigenen musikalischen Wurzeln. Für den Herbst wiederum hatte er sich drei neue Projekte aufgehoben, die im Zusammenhang mit dem Berliner Musikfest vorgestellt werden. Denn auf diese Weise kann sich Pierre Boulez selbst mit zwei Konzerten und als Schwerpunkt der Veranstaltungsreihe präsentieren, auf der anderen Seite aber auch all jenen etwas bieten, die nicht in den Genuss der Gastspiele von kommendem Donnerstag an in der Berliner Philharmonie kommen.

Auf der einen Seite stehen dabei zwei Werkkomplexe an der Schwelle zur musikalischen Gegenwart: Gustav Mahler und Maurice Ravel. Beide Komponisten haben auf ihre Weise zum postromantischen Klangverständnis beigetragen: der eine durch die Ausweitung der Orchestersprache, der andere durch die Neuorganisation der harmonisch-melodischen Zusammenhänge der musikalischen Stimmungen und Emotionen. Mahler ist seit langem ein Forschungsschwerpunkt von Pierre Boulez und bereits mit grundlegenden Einspielungen dokumentiert. Mit dem Lied-Zyklus „Des Knaben Wunderhorn“ nach Gedichten von Clemens Brentano und Achim von Arnim sowie dem Adagio aus der unvollendeten Zehnten Symphonie, die im Februar diesen Jahres in Cleveland mit dem renommierten Orchester der Stadt entstanden, setzt der Dirigent diese seine Auseinandersetzung eindrucksvoll fort. Dabei hatte er mit der Mezzo-Sopranistin Magdalena Kožená und dem Bariton Christian Gerhaher Solisten an seiner Seite, die die musikalischen Ideen mit faszinierender Intensität umsetzen. „’Des Knaben Wunderhorn’ besteht aus einzelnen Miniaturen“, meint Boulez dazu. „Diese spezielle kompositorische Form war typisch für die frühen Romantiker und erinnert an die Lieder von Komponisten wie Schubert und Schumann. Aus dieser Sicht also ist es stark in der Vergangenheit verankert, aber im Hinblick auf den Ausdruck und die musikalische Sprache ist es kaum weniger als ein progressives Werk“.

Ähnliches könnte man auch über die Klavierkonzerte von Maurice Ravel sagen. In einem Konzertgenre, das zu den beliebtesten des 19.Jahrhunderts gehörte und in der Nachfolge von Beethoven bereits Meisterstücke von Schumann und Grieg bis hin zu Tschaikowsky hervorgebracht hatte, versuchte der französische Komponist, die Grenzen der Ausdruckskraft zugunsten neuer Farbeindrücke und Assoziationsfelder zu überschreiten, was ihm durch die Ausweitung der Harmonik, aber auch durch rhythmische Finessen gelang. Die Werke gehören zu den Fundamenten der Klaviermoderne und beinahe jeder Pianist von Rang hat sich bereits daran versucht. Für Pierre-Laurent Aimard war es daher eine doppelte Herausforderung, die beiden Klavierkonzerte und als Ergänzung noch die „Mirroirs“ aufzunehmen. Zu einen galt es, sich in der Reihe der berühmten Vorgänger zu behaupten, darüber hinaus aber der Kraft von Pierre Boulez zu entsprechen, der das Cleveland Orchestra leitete. Das Experiment ist gelungen und die Spannung des Abends überträgt sich direkt auf den Hörer dieser Einspielung. „Das Kollektiv kennt keine Gnade“, meinte der Tagesspiegel anlässlich des Konzerts, „als Pierre-Laurent Aimard dem Flügel mit seiner ungemein virtuosen Linken Koloraturen entlockt und innige Zwiesprache mit den Holzbläsern hält. Stil und Seele, Brillanz und Sentiment, Bescheidenheit und Überschwang: Aimard vereint die Gegensätze mit perlendem Anschlag“.

Als drittes Schmuckstück des musikalischen Herbstes fügt Pierre Boulez der eigenen Diskographie noch einen Neuzugang hinzu. Denn zum ersten Mal in seiner Laufbahn beschäftigt er sich auf CD mit dem Oeuvre des polnischen Komponisten Karol Szymanowski, der zu den führenden neoromantischen Klanggestaltern der Gegenwart gehört. Im vergangenen Jahre widmete Boulez sich gemeinsam mit den Wiener Philharmonikern dessen dritter Symphonie, „Das Lied der Nacht“, und darüber hinaus seinem ersten Violinkonzert. Als Solist konnte er den Geiger Christian Tetzlaff gewinnen, der seinen Part so gut spielte, dass die versammelten Wiener Feuilletons den Abend als einen Höhepunkt der Konzertsaison bezeichneten und ihm selbst bescheinigten, dass er „konzentriert, versunken und dennoch beherzt zupackend“ (Die Presse) die Klangideen von Szymanowski pointiert umzusetzen verstand. Mit diesem Album rundet Pierre Boulez daher die Mahler-Aufnahme im Jubiläumsjahr – die gleichzeitig den Abschluß seines Mahler-Zyklus bedeuten – um einen Ausflug in die musikalische Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts ab. Und so jung wie er sich fühlt, werden sicher noch viele weitere folgen.

Im Rahme des musikfest berlin 10 finden an folgenden Tagen Schwerpunktkonzerte mit Repertoire von Pierre Boulez statt: 04.09., 07.09., 15.09. – 20.09.2010

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