Alles ist komplizierter geworden. Unser Leben, unsere Beziehungen, unser Wissen und natürlich auch die Kunst. Vor diesem Hintergrund entfalten reduzierte Formen des Ausdrucks seit jeher in der Moderne ihren eigenen Charme. Sie schaffen neue Räume des Innehaltens, der Konzentration und des geduldigen Zuhörens. Kaum ein Label hat diesem Aspekt in der Musik so viel Aufmerksamkeit zuteil werden lassen wie ECM New Series. Seit dem furiosen Erfolg von Arvo Pärts “Tabula Rasa” (1984) überrascht Label-Gründer Manfred Eichner sein Publikum Jahr für Jahr mit immer neuen Geschenken aus der “Neuen Serie”. Man weiß nie, was kommt, aber man kann sicher sein, dass es Seele hat und modern ist.
Ost und West
Mit Tigran Mansurian widmet sich das Label jetzt wieder einem Giganten der zeitgenössischen Musik, der oft in einem Atemzug mit Alfred Schnittke und Arvo Pärt genannt wird. In seinen jungen Jahren stark von der seriellen Musik geprägt, entwickelte Mansurian mit zunehmendem Alter eine immer stärker werdende Leidenschaft für einstimmige Lieder und liturgische Musik aus seiner Heimat Armenien. Von dieser Musik war er so stark beeindruckt, dass er sie unbedingt in seine Kompositionen integrieren wollte. Dabei redete er keineswegs einem naiven Traditionalismus das Wort oder kehrte der westlichen Moderne völlig den Rücken. Im Gegenteil: Er suchte diese beiden Möglichkeiten, westliche Moderne und östliche Tradition, zusammenzufügen.
Persönliche Reaktion
Mansurians tiefste musikalische Quelle ist das einstimmige Lied. Im Gegensatz zu zeitgenössischen östlichen Komponisten wie Edison Denisov, die ihre expressiven Schöpfungen oft mit polyphonen Techniken grundieren, interessiert sich der armenische Komponist nicht so sehr für den harmonischen Zusammenklang selbständiger Stimmen, sondern für eine einzelne Stimme, die eine Melodie ersinnt, sie umspielt, aus ihr ausschert und dabei ein Eigenleben entfaltet. Mansurian vergleicht seinen Impuls zum Komponieren mit einer traditionellen armenischen Frau, die für ihre Familie sorgt, viel arbeitet und wenig Zeit hat. Einige Minuten am Tag setzt sie sich jedoch ans Fenster, schaut hinaus und beginnt zu singen. Was nun aus der Frau herausströmt, ist einerseits ihrem Leben geschuldet. Andererseits stellt es aber auch ihre ganz persönliche Reaktion auf dieses Leben dar. Tigran Mansurian schätzt diese Subjektivität. Sie ist für ihn die Quelle von Musik schlechthin, und sie verbindet Tradition und Moderne, ohne dass der Komponist diese Verbindung selbst herstellen müsste.
Solistischer Eigensinn
Dass ein Komponist, der so stark für eine einzelne Stimme brennt, ein besonderes Faible für Solisten hat, dürfte nicht weiter überraschen. Und hierin liegt in der Tat die große Stärke des Armeniers, die auf dem neuen Album besonders eindrucksvoll zur Geltung kommt. Man hört die Soloinstrumente wahrhaft singen. Von einfachen Melodien, über leidenschaftliche Ausbrüche bis hin zu bizarren, wirr verzweigten Linien findet sich alles, was man sich unter subjektiver Ausdruckskraft vorstellen kann. Und dass hierbei ein traditioneller Akzent und eine moderne Ausdrucksweise wie durch Magie zueinander finden, diesen Beweis hat Mansurian spätestens mit der vorliegenden CD erbracht.
Atemberaubender Ausdruck
Die beiden Stücke, die im Zentrum des neuen Albums stehen, sind zwei Solistinnen gewidmet, die diese Werke auf der CD selbst einspielen: der Cellistin Anja Lechner und der Geigerin Patricia Kopatchinskaja. Das titelgebende “Quasi parlando” (2012) für Cello und Streichorchester entfaltet eine meditative Traurigkeit, die dem Hörer ebenso den Atem verschlagen kann, wie sie ihn vor ein Rätsel stellt. Die fallenden Halbtonschritte und zarten Tonumspielungen der Cellistin, dem das Orchester mit einem gewissen harmonischen Abstand folgt, wirken unverständlich. Aber es handelt sich um eine bedeutungsträchtige Unverständlichkeit. Man hat hier das Gefühl, jemand versucht einem Erlebnis Ausdruck zu verleihen, das nicht so leicht zu verstehen ist. Und ist es je anders, wenn es ans Eingemachte geht?
Die “Romanze” (2011) für Geige und Streichorchester beginnt lyrischer, mit einer melancholischen Melodie, die sich immer mehr verzweigt. Das diskret spielende Streichorchester der Amsterdam Sinfonietta klingt dabei fast idyllisch, doch die größer werdenden Sprünge in der Melodie künden von einer Zerreißprobe. Reißt der Faden? Nein, aber er spannt sich bis an die äußerste Grenze.
Alles stimmt wieder
Zwischen echtem Unheil und zarten Beruhigungsversuchen changiert hingegen das grandiose Doppelkonzert für Violine, Cello und Streichorchester aus dem Jahre 1978, das man mit einigem editorischen Geschick an den Anfang der CD gestellt hat. Gemeinsam mit dem asketischen, bis an die Grenze der Auflösung reduzierten Konzert Nr. 2 “Vier ernste Lieder” (2006), mit dem das Album ausklingt, rahmt es die “Romanze” und das “Quasi parlando” gelungen ein. Das gewohnt anspruchsvoll gestaltete Booklet, mit einem wunderbaren Begleitessay aus der Feder von Wolfgang Sandner und zurückhaltenden S/W-Fotos des Komponisten sowie der beiden Solistinnen, Anja Lechner und Patricia Kopatchinskaja, ist dann das I-Tüpfelchen einer Publikation, bei der mal wieder alles stimmt.