In einer prägnanten Szene aus Dorian Supins Dokumentation über den ukrainischen Komponisten Valentin Silvestrov äußerst sich eine staunenerfüllte Sofia Gubaidulina über die spirituelle Dimension im Schaffen ihres ukrainischen Kollegen: “Seiner Meinung nach ist alles schon da – ist alles schon geschrieben worden. Um das zu verstehen, muss man an den Allmächtigen erinnern. Alles ist schon einmal geschaffen worden, man muss nichts weiter tun als aufmerksam dem lauschen, was schon da ist, und das wieder aufrufen. Dann fängt wieder etwas an zu schwingen.” Er schreibe keine neue Musik, bekundet Silvestrov selbst. “Meine Musik ist zugleich Antwort und Echo auf das, was schon existiert.” Besondere Ausprägung findet das Spirituelle bei Silvestrov in Form einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Erbe des liturgischen Gesangs. Eine Fülle außergewöhnlicher und berückender A capella-Chorstücke ist daraus in den vergangenen Jahren hervorgegangen. Die erste Sammlung von “Sacred Works” veröffentlichte ECM New Series 2009. Zum 75. Geburtstag Valentin Silvestrovs erscheint mit “Sacred Songs” dieser Tage nun neues, bislang unveröffentlichtes Material aus den Jahren 2006 bis 2008.
In Schwingung versetzt
Silvestrovs Schilderung der Entstehungsgeschichte seiner A capella-Werke ähnelt in bemerkenswerter Weise der Idee Gubaidulinas von einem Punkt, der zu schwingen beginnt, sobald er in Bewegung versetzt wird: “Mykola [Hobdych, Chorleiter der Aufnahme] brachte mir Unmengen an Musik mit Liturgien von anderen Komponisten und in einer von ihnen fand ich die vollständigen Texte der Göttlichen Liturgie des Heiligen Chrysostomus”, erinnert sich der Komponist. “Bereits die erste Litanei, die ich zur Hand nahm, gab mir an Ort und Stelle die Initialzündung. Ich berührte sie und der Text begann, in mir zu schwingen.” Inwieweit die resultierenden Chorkompositionen Silvestrovs für rituelle Zwecke bestimmt sind, bleibt offen. Die Gesamtkonzeption der “Sacred Songs” folgt immanenten musikalischen Prinzipien und die Vertonung der Worte ist vom Geist der Ökumene erfüllt. Womöglich beruht die Relevanz der alten Texte für diese Musik primär auf ihrer Ehrwürdigkeit und nicht auf ihrer Bedeutung oder liturgischen Funktion.
Stimmen ersetzen Klaviertasten
“Weil ich ein Individualist bin, waren Chöre für mich lange Zeit nicht von Interesse. Mein Schicksal ist das Klavier”, sagte Silvestrov einmal. Und tatsächlich liegt auch der Chormusik der “Sacred Works” und “Sacred Songs” ein pianistisches Denken zugrunde. Indem der Komponist den Kammerchor Kiew unter der Leitung von Mykola Hobdych als Ensemble von “in ihrem Ausdruck beschränkten Solisten” behandelt und die Sektionen in kleine Gruppen aufteilt, erzielt er einzigartige klangliche und harmonische Effekte sowie äußerste melodische und rhythmische Flexibilität. Die fast körperlose Anmutung seiner Vertonungen von Vespern, Psalmen und Gebeten scheint Valentin Silvestrovs vielzitierte Auffassung von Musik als “Gesang der Welt über sich selbst” zu unterstreichen. Die Aufnahme wurde im unlängst restaurierten St. Michaelskloster in Kiew realisiert. Mit seinem überaus reichen Resonanzspektrum scheint es hier wie ein weiterer, unsichtbarer Interpret hinzuzutreten.