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Valentin Silvestrov – leggiero, pesante

15.02.2002
Valentin Silvestrov ist ein einzigartiger lyrischer zeitgenössischer Komponist. ECM New Series stellt diesen bedeutenden ukrainischen Komponisten in den kommenden Monaten und Jahren ins Licht.
Was war für Sie der erste Kontakt mit der Musik von Valentin Silvestrov?
 
Anja Lechner: Vor ungefähr drei Jahren spielte mir Manfred Eicher eine Platte mit dem “Postludium für Klavier und Orchester” vor, und ich war sofort gefangen von dieser Klangwelt. Ich habe dann geschaut, was es für Kammermusik gibt, und bin auf die Aufnahme der Streichquartette mit dem Lysenko Quartett gestoßen. Das war Musik, wie ich sie noch nie gehört hatte, und trotzdem war sie mir sehr vertraut. Natürlich wollte ich diese Musik auch spielen. Zuerst lernte ich das “Postludium für Cello und Klavier”, dann die Cellosonate. Etwas später fingen wir auch an, uns mit seinem 1. Streichquartett auseinanderzusetzen.
 
Simon Fordham: Ich habe Anja in einem Konzert mit dem “Postludium” gehört, und die Musik hat mich unmittelbar angesprochen. Als Nächstes hörte ich die Aufnahmen mit der “Kitschmusik” für Klavier und den Streichquartetten; und sehr bald wollte ich diese Musik auch spielen.
 
Silke Avenhaus: Anja hatte mir von der Musik Silvestrovs erzählt, von der sie sehr fasziniert war. Als ich von ihr die Noten bekam, hat sich mir die Musik, zumindest vom Blatt, zunächst einmal gar nicht erschlossen. Sie spricht einen, obwohl sie ja eigentlich “zugänglicher” ist als andere zeitgenössische Musik, auf einer Ebene an, für die ich anfangs nicht offen war. Vielleicht hatte ich mehr Kontrapunktik und Dichte erwartet, aber die Musik zielt ja in eine völlig andere Richtung. Es dauerte einige Zeit, aber irgendwann habe ich mich dann in diese Klangwelt eingehört. Jetzt empfinde ich Silvestrovs Musik als ausgesprochen emotional und sinnlich, aber das musste ich erst entdecken.
 
Welche Bedeutung hatte die Zusammenarbeit mit dem Komponisten für Sie?
 
Anja Lechner: Für mich war es sehr wichtig, mit Silvestrov zu arbeiten, da sein Notentext auch sehr missverstanden werden kann. Jeder Takt ist geradezu überfrachtet mit Spielanweisungen, Accelerandi, Ritardandi, verschiedenen Dynamikangaben, zum Teil auf einem Ton, Metronomangaben und vielem mehr. Das führt zunächst dazu, dass man mehr liest als hört und fühlt. Silvestrov hilft einem dann, in die Extreme zu gehen, dynamisch, rhythmisch und auch vom Ausdruck her. Genauso wie er einen dazu anhält, leiser und leiser zu spielen, will er auch, dass man wild, geradezu ekstatisch spielt.
 
Silke Avenhaus: Bei der Cellosonate, in der das Klavier wirkliche Forte-Ausbrüche hat, dachten wir zunächst, wir hätten Balance-Probleme; ich kam mir auch viel zu laut vor. Aber Silvestrov wollte diese Ausbrüche, er ist da völlig kompromisslos, dann hört man eben manchmal fast nur das Klavier.
 
Anja Lechner: Es gibt in der Cellosonate viele Stellen, wo die Trennung zwischen Melodiestimme und Begleitung aufgehoben ist. Stattdessen soll das Cello sich mit dem Klavierklang verweben – als würde es im Klavier verschwinden oder wieder auftauchen. Auch in den Quartetten gibt es solche Stellen, wo die Einzelstimme sich aufzulösen scheint, wo Töne verklingen oder sich verwandeln in ein Geräusch. Manchmal denke ich an Ilse Aichinger, die in ihrer Prosa das “Verschwinden” immer wieder thematisiert. Silvestrovs Musik geht für mich in eine ähnliche Richtung.
 
Silke Avenhaus: Neulich habe ich Euch mit dem 1.Streichquartett im Münchner Herkulessaal gehört und dabei die Wirkung auch von außen, als Zuhörer, ganz stark erlebt, als sich die Musik fast wie ein Schleier über das Publikum zu legen schien. Irgendwie sind da die Menschen ganz still geworden, es hatte fast etwas von einer Andacht. Ich denke, das lag zum einen an der Musik, zum anderen daran, dass ihr sie so verinnerlicht und verstanden hattet, dass sich das so intensiv übertragen hat – das war sicher ein langer Prozeß.
 
Simon Fordham: Als wir mit dem Streichquartett begannen, waren wir ungeduldig, und technisch schien es zunächst recht leicht zu sein. Wir spielten es ein paar Mal im Konzert, aber es kam nicht gut an, es gab Reaktionen, die Musik sei langweilig oder kitschig. Wir haben gemerkt, dass es an der Spielweise lag, weil wir uns nicht hineingehört und auch zu wenig herausgeholt hatten. Man kann die Partitur oberflächlich bewältigen, aber dabei wird man der Musik nicht gerecht.
 
Silke Avenhaus: Der intellektuelle Zugang allein ist absolut unzureichend. Wenn man all diese Zwischentöne und Nuancen nicht erfühlt, dann erschließt sich nichts. Die subtilen Empfindungen, die in diesen Werken stecken, entdeckt man viel mehr, wenn man mit Silvestrov arbeitet. Das war für mich eine große Hilfe, um seine Musik zu verstehen – und es ist ein Glück, wenn man das erleben kann.
 
Wie haben Sie sich mit Ihm verständigt, in welcher Sprache?
 
Anja Lechner: Während der Aufnahme hat Tatjana Frumkis, eine ausgewiesene Kennerin seiner Musik, versucht, die Ideen von Valentin Silvestrov zu übertragen. Er ist, wenn er über Musik redet, ein eher ungeduldiger Mensch. Es war schon einfacher für alle, wenn er durch Gesten oder Singen verdeutlichte, wie er eine Bewegung haben wollte.
 
Wie geht Silvestrov mit den technischen und klanglichen Möglichkeiten der einzelnen Instrumente um?
 
Anja Lechner: Silvestrov macht es einem wirklich nicht leicht; er verlangt Dinge, die man anfangs für unspielbar hält. Dabei geht es ihm nie um Virtuosität. Es entstehen aber oft Klänge, die weit über das normale Klangspektrum eines Streichinstruments hinausführen. Ich musste zum Beispiel eine ganz neue Pizzicato-Technik lernen, und am Ende der Sonate klingt das Cello schon fast wie eine Windharfe.
 
Die Aufnahme entstand während drei Tagen in der Frankfurter Festeburgkirche?
 
Anja Lechner: Wir haben das Quartett, glaube ich, zwei- oder dreimal gespielt, ebenso die Postludien. Im Grunde lief alles durch, wobei Silvestrov auch während der Aufnahme immer wieder in die Kirche kam, um uns gestisch zu vermitteln, wie er es sich vorstellt. Mitunter schrieb er auch direkt mit Rotstift in die Noten, während wir spielten. Vieles, was gerade über Silvestrov gesagt wurde, über diese Genauigkeit, das Erarbeiten der Noten, die Arbeitsweise, würde auf Anhieb auch auf einen Komponisten zutreffen, den man zunächst nicht mit Silvestrov in Verbindung bringen würde, auf György Kurtág.
 
Silke Avenhaus: Der Vergleich trifft wirklich zu. Ich habe einmal ziemlich lange mit Kurtág gearbeitet, und das ging in eine ähnliche Richtung. Es gibt deutliche Parallelen – die äußere Bescheidenheit ebenso wie diese Besessenheit, diese Hingabe an die Musik, das Immer-und-Immer-Weitergehen, ob das auf der Suche nach dem Klang ist, oder im Ausloten der Dynamik. Die Rigorosität in ihrer Arbeit ist grenzenlos; sie gibt ihnen selber vielleicht auch diese Energie, diese Ausstrahlung.
 
Silvestrov hat eine lange und facettenreiche Entwicklung als Komponist hinter sich. In den sechziger Jahren gehörte er ja zu den gefeierten Komponisten in Darmstadt, wurde von Boulez und Maderna aufgeführt. Alles lief darauf hinaus, dass er ein bedeutender Vertreter der “Avantgarde”, der sogenannten Neuen Musik werden würde. Später hat er sich dann von dieser Richtung distanziert.
 
Anja Lechner: Er hat einmal gesagt: “Ich muss schreiben, was mir gefällt und nicht das, was andere mögen, oder – wie man so schön sagt -, was mir die Zeit diktiert. Andernfalls unterliege ich einer Konjunktur, die das Bewusstsein verstümmelt ? ich muss nach Schönheit suchen.” Und das ist ja etwas, das in unserer Zeit sehr schwierig ist und das man schnell missverstehen kann. In der mitteleuropäischen Neuen Musik sind Begriffe wie Schönheit, Gefühl, Seele immer noch tabu. Wir Musiker leben mit einem Paradoxon, gerade in unserer Musikerziehung. Wir werden immer dazu erzogen, einen schönen Ton zu entwickeln; in der modernen Musik jedoch ist das geradezu verpönt, und es gibt erhebliche innere und äußere Widerstände, wenn man plötzlich schön spielen soll. Das ist wirklich paradox.
 
Gerade im Ansatz, dieses Paradoxon aufzuheben, also eine Zeitgenossenschaft jenseits der Dogmen der Neuen Musik zu behaupten, liegt wohl auch eine Verbindung zwischen Valentin Silvestrov und Manfred Eicher.
 
Silke Avenhaus: Ja, das ist ganz offensichtlich. Und eben auch sehr mutig.
 
Simon Fordham: Wenn man sich näher mit Silvestrov und seiner Musik befasst, wird der “Kitsch”-Vorwurf, den man ihm verschiedentlich gemacht hat, völlig gegenstandslos, weil man ganz sicher ist, dass es keinerlei Berechnung, kein Kalkül in dieser Musik gibt. Und plötzlich kann man einfach zuhören, anstatt von vornherein skeptisch zu fragen: Warum schreibt er jetzt so tonal und so schön, was könnte das jetzt für Gründe haben? Das hat nämlich überhaupt keine äußerlichen Gründe. Bei der Aufnahme hat mich sehr beeindruckt, wie Silvestrov sich immer wieder selbst ans Klavier setzte, etwa in der Mittagspause. Er saß da und hat für eine Viertelstunde gespielt. Und da wurde mir klar, dass es mit einer absoluten Ernsthaftigkeit und Besessenheit gespielt ist. Selbst in einem kaum spürbaren Ton gibt es noch etwas Leuchtendes, von dem man nicht weiß, wie er es herstellt. Es ist ganz eigenartig, aber es glüht, und es spricht unmittelbar.
 
Silke Avenhaus: Auch hier wieder der Vergleich zu Kurtág: András Schiff hat einmal in Marlboro in einem Brief an alle Studenten geschrieben, dass die Komponisten die größten Musiker seien. Bei Kurtág wie jetzt auch bei Silvestrov ist mir aufgefallen, dass ihre Klangvorstellung so reich und immens ist, dass sie sich völlig über die Ausführbarkeit des Instruments hinwegsetzen. Da geht es gar nicht mehr um die Frage, wie macht er das klaviertechnisch – es scheint einfach vom Kopf in das Instrument hineinzufließen. Diese Frage ist für uns natürlich extrem wichtig, wie man das macht, die Vorstellungskraft derart zu schärfen, denn diese extremen Farben sind auch überhaupt nur so möglich. Das hat mich auch wieder so inspiriert an der Arbeit mit ihm – als Instrumentalist ist man immer irgendwie mit der Aufführbarkeit und Durchführbarkeit beschäftigt und verlässt diese Ebene leider viel zu selten, um einfach nur zu hören und direkt vom Klang auszugehen. Wenn man sieht, durch was für einen Prozess wir bei dieser Aufnahme gegangen sind, dann kann man sich natürlich auch fragen: Was macht ein Zuhörer, wenn er diese Platte jetzt zum ersten Mal hört? Auch er muss sich darauf einlassen.
 
Bei dem schon angesprochenen Konzert im Münchner Herkulessaal haben Sie das 1. Streichquartett von Silvestrov zwischen zwei Werke von Mozart gestellt. Mit welchen Komponisten würden Sie Silvestrov am ehesten zusammen sehen?
 
Simon Fordham: Silvestrovs Musik passt zu sehr vielen Stücken, zu Schubert, Mozart, Haydn, Beethoven. Als wir das Quartett aufgenommen haben, hat Silvestrov etwas sehr Bezeichnendes gesagt: “Der gesamte Anfang soll wirken wie eine Geschichte der westlichen Musik.” Also sinngemäß, von Anfang bis Ziffer eins oder so, das ist die Entstehung der Musik, so müsst Ihr Euch das vorstellen. Und das stimmt auch.

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