Kammermusik zählt neben Jazz zu den musikalischen Hauptleidenschaften von Manfred Eicher. Deshalb verwundert es nicht, dass der Produzent des Münchener Labels ECM New Series seit längerem mit einem Aufnahmeprojekt liebäugelt, das ausschließlich der Kammermusik von Erkki-Sven Tüür gewidmet ist. Der 1959 in Kärdla auf der estnischen Ostseeinsel Hiiumaa geborene Komponist gilt neben Größen wie Veljo Tormis oder Arvo Pärt als eine der innovativsten Stimmen der musikalischen Avantgarde Estlands. Tüür nimmt seit Mitte der 1990er Jahre für die New Series auf. Alben wie “Crystallisatio” (1996), “Flux” (1999), “Oxymoron” (2007) oder “Siebte Symphonie/Klavierkonzert” (2014) zeugen von dem Reifeprozess eines flexiblen Individualisten, der als Flötist, Keyboarder und Sänger der estnischen Prog-Rock-Band In Spe (1979–1985) Bekanntheit erlangte, bevor er sich für das “klassische” Komponieren entschied und sich auf experimentelle Weise seriellen, modalen und minimalen Techniken annäherte.
Vektorielles Komponieren
Mit den Jahren wuchs bei dem Komponisten das Verlangen nach einem inneren Zusammenhang seiner Musik. Der freie Umgang mit diversen Stilkomponenten des 20. Jahrhunderts genügte ihm nicht mehr. Auf dem Weg zu einem einheitlichen Konzept entwickelte Erkki-Sven Tüür den von ihm so bezeichneten vektoriellen Ansatz, den er in Arbeiten wie dem Duo für Geige und Cello “Synergie” (2010) oder dem Klaviertrio “Lichttürme” (2017) ideal verwirklicht sieht. An diesen kammermusikalischen Werken erkenne man, so der Komponist gegenüber dem Filmemacher Ingo J. Biermann, “was ich mit dem vektoriellen Schreiben meine: Man sieht diese verschiedenen Winkel der scheinbar parallelen Bewegungen in den Melodien und wie ich diese spiralförmigen, sich ständig verändernden harmonischen Ausgänge aufbaue”. Das Werk “Lichttürme” spielt für Tüür eine Schlüsselrolle. Nachdem er diese Arbeit vollendet hatte, fühlte er sich auf sicherem Grund und konnte Manfred Eichers Wunsch nach einem kammermusikalischen Album entsprechen.
Helle Empfindungen
Jetzt ist ein solches Album unter dem Titel “Lost Prayers” bei ECM New Series in München erschienen. Es enthält neben den für seine vektorielle Herangehensweise so wichtigen Arbeiten “Synergie” und “Lichttürme” zwei weitere kammermusikalische Werke, die Erkki-Sven Tüür nach der Jahrtausendwende schuf und in deren Klangpoesie sich sein Personalstil bereits deutlich abzuzeichnen begann: das titelgebende Streichquartett Nr. 2 “Lost Prayers” von 2012 und das Trio für Geige, Cello und Klavier “Fata Morgana” von 2002.
An dem Streichquartett zeigt sich Tüürs spiritueller Weg, der in eine andere Richtung weist als der seines von tiefer Glaubensfestigkeit geprägten Landsmannes Arvo Pärt. Bei Tüür beten die Menschen zwar noch, aber ihre Gebete gehen verloren: Lost Prayers. Dass dieses Drama keine bedrückenden Dimensionen annimmt, könnte mit der enormen Dynamik und den heftigen Kontrasten zu tun haben, denen Tüür musikalisch Ausdruck verleiht. Das Signum Quartett fängt die sprunghafte, genuin moderne Gestimmtheit des Komponisten geschickt ein.
In “Lichttürme”, das gemächlich, jedoch mit deutlich spürbarer Spannung beginnt, gelingen Tüür Steigerungen von ekstatischer Qualität. Das estnische Trio Harry Traksmann (Geige), Leho Karin (Violoncello) und Marrit Gerretz-Traksmann (Klavier) verleiht dem Stück einen hellen Glanz, der das Gefühl einer inneren Klärung vermittelt. Die ebenso intime wie transparente Akustik des Sendesaals Bremen, wo das Album von Erkki-Sven Tüür im Frühjahr 2019 aufgenommen wurde, trägt maßgeblich zu dem Eindruck der kristallinen Klarheit bei.