Erkki-Sven Tüür | News | Gesualdo – Erkki-Sven Tüür knüpft an Renaissancekomponisten an

Gesualdo – Erkki-Sven Tüür knüpft an Renaissancekomponisten an

Erkki-Sven Tüur
© Katrin Schander / C.F. Peters, Frankfurt
17.09.2015
Dass eine Musik, die Jahrhunderte alt ist, uns anspricht, ist ein wiederkehrendes Wunder der Musikgeschichte. Klassikliebhaber kennen dieses Staunen, das einsetzt, wenn eine echte Berührung mit Kulturwelten längst vergangener Zeiten möglich wird.

Moderne Vorgriffe: Gesualdo im 20. Jahrhundert

Aber dass ein Komponist, dessen Werke größtenteils mehr als 400 Jahr alt sind, uns so vertraut ist wie Carlo Gesualdo, überwältigt selbst hartgesonnene Kenner Alter Musik. Zwar können sie sich dies theoretisch erklären, wenn sie auf die häufigen Tonartwechsel und den starken Gebrauch von Chromatik bei Gesualdo verweisen. Weniger erstaunlich ist das Phänomen dadurch aber nicht. Gesualdos Modernität, sein Vorgriff auf moderne Empfindungsweisen, bleibt ein Rätsel.
Kein Zufall ist auf diesem Hintergrund, dass der italienische Fürst und Komponist auch Meister des 20. Jahrhunderts zu Nachahmungen und Weiterschöpfungen inspirierte. Allen voran Strawinsky, der mit “Monumentum pro Gesualdo di Venosa ad CD annum” (1960) drei Madrigale des Italieners rekomponierte und ihm so ein wahres Denkmal setzte. Für Strawinsky war die Musik von Gesualdo hochdramatisch und zugleich intim. Er sah in ihr starke erotische Momente.

Überwältigende Klangpoesie: Erkki-Sven Tüür und Brett Dean 

In den 1990er Jahren arbeiteten Komponisten wie Klaus Huber und Salvatore Sciarrino mit dem Stil des italienischen Meisters. Daneben entstanden zahlreiche Bühnenwerke, die das abenteuerliche Leben Gesualdos zum Thema hatten, darunter eine Oper von Alfred Schnittke. Gesualdo, der von 1566 bis 1613 lebte, war an einem furchtbaren Verbrechen beteiligt. Er und seine Vertrauten töteten Gesualdos Ehefrau und deren Geliebten Fabrizio Carafa.
Erkki-Sven Tüür und Brett Dean haben es auf das musikalische Erbe von Gesualdo abgesehen, und was der rockaffine Este und der dynamische Australier damit machen, beweist einmal mehr, dass die schöpferischen Bodenschätze des italienischen Renaissancekomponisten noch nicht aufgebraucht sind. Die beiden Komponisten demonstrieren mit ihrem Album “Erkki-Sven Tüür, Brett Dean: Gesualdo”, dass die wilden Harmonien und der gespannte Stil Gesualdos bis heute berückend schöne Klangpoesien und Gesänge inspirieren.  

Still und intensiv: Der typische ECM-Sound 

Überraschend ist, dass trotz der harmonischen Komplexität und Gespanntheit der typische ECM-Sound auf dem Album anwesend ist. Tüür und Dean entdecken etwas Stilles, Zurückgenommenes bei Gesualdo. Brett Dean lässt es in “Carlo” (1997) zunächst ruhig angehen. Er zitiert aus Gesualdos 6. Madrigalbuch. Zusehends entwickelt sich jedoch aus den meditativen Gesängen eine unheimliche Atmosphäre, die sich bis ins Rauschhafte, beinahe Wahnsinnige steigert und auf Gesualdos Seelenzustand vor dem Verbrechen hindeutet.
Versöhnter klingt Tüürs “L’Ombra della croce” (2015), das an Gesualdos Mottete “O Crux benedicta” anknüpft, die man zuvor in einem ergreifenden Streicherarrangement des estnischen Komponisten zu hören bekommt. Tüür inspiziert geduldig das spirituelle Moment bei Gesualdo und birgt es mit Vorsicht. Der Klangraum der Methodistenkirche in Tallinn, wo das Album aufgenommen wurde, bekräftigt die geistliche Komponente, die schließlich auch in Tüürs rhythmisch pulsierender “Psalmody” (1993) durchscheint.
Tüür bearbeitete seine Psalmody mehrfach und präsentiert jetzt eine Version aus dem Jahre 2011. Mit ihr schließt das Album, das nicht zuletzt dank der überragenden Leistung des Estonian Philharmonic Chamber Choir und des Tallinn Chamber Orchestra unter der Leitung von Tõnu Kaljuste so gut gelungen ist. Kaljuste hatte maßgeblichen Anteil an der Realisierung des Aufnahmeprojekts und ist mit seinem eigenen Streicherarrangement von Gesualdos “Moro lasso” auch schöpferisch an dem Album beteiligt.

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