Estland hat rund 1,3 Millionen Einwohner. Etwa ein Drittel davon lebt in Tallinn, der Rest ist über wenige Städte, weite Landschaften und Inseln verteilt. So gesehen ist es ein übersichtlicher Staat, dessen Kulturszene wiederum vom Ineinander der Künste und Stilformen bestimmt ist, schon deshalb, weil man für nachhaltige Cliquenbildung gar nicht genug Leute hätte. Wer als Künstler in Estland groß geworden ist, ist daher von der Basis her in der Regel vielseitig orientiert. Erkki-Sven Tüür beispielsweise, geboren 1959 in Kärdla, einer Siedlung auf der zweitgrößten estnischen Insel Hiiumaa, war als Kind musikalisch zunächst einmal auf sich selbst angewiesen. Der Teenager schaffte dann den Sprung an die Tallinn Music School, studierte Flöte und Perkussion, wurde Schüler von Jaan Rääts und Lepo Sumera und gründeten noch in kommunistischen Zeiten eine Progressive Rock Band mit Namen In Spe, die sich schnell zu einer der beliebtesten Combos des Baltikums entwickelte. Mit der Öffnung der Region in Perestroika-Zeiten gelang es Erkki-Sven Tüür, sich auch bei den skandinavischen Nachbarn und international einen Namen zu machen, inzwischen vom Rockdrummer zum Komponisten modern klassischer Musik gereift. Im Jahr 1996 stellte ihn der Produzent Manfred Eicher erstmals mit einem eigenen Album im Rahmen von ECM New Series vor („Crystallisatio“), seitdem hat sich Erkki-Sven Tüür zu einem der renommiertesten Komponisten seines Landes neben dem mehr als zwanzig Jahre älteren Arvo Pärt entwickelt.
So gehört auch seine sechste Symphonie mit dem Titel „Strata“ bereits in einen umfassenden Gestaltungszusammenhang kontinuierlicher Klanggenese. „Ich habe eine Methode erfunden, die ich ‘vektorielles Komponieren’ nenne“, erläutert Tüür seinen Umgang mit der großen Form. „Es ist eine Art der Stimmführung im weiteren Sinne, die Projektionen von Vektoren in verschiedene Richtungen folgt. Zur gleichen Zeit folgt das Basismaterial einem bestimmten numerischen Code, ähnlich einer genetischen Entwicklung, die die ganze Komposition mit all ihren Mutationen und Transformationen formt. Diese Technik erlaubt es mir, eine viel größere harmonischen Bandbreite zu erreichen“. Dieses im Kern organische Prinzip der Klangentwicklung heißt im Fall von „Strata“, dass die gesamte Symphonie in einem Satz stattfindet, der die vektoriellen Fortschreitungen im großen Klangkörper des Nordic Symphony Orchestra unter der Leitung von Anu Tali klangdramaturgisch abbildet.
Spannend ist diese Methode der postseriell sich entfaltenden Klangraumgestaltung vor allem im Kontrast zur zweiten Komposition der bei ECM New Series unter der Ägide von Manfred Eicher produzierten Aufnahme. Denn in dem von Carolin und Jörg Widmann als Solisten veredelten „Concerto for Violin and Clarinet ‘Noësis’“ stehen klare Melodieführungen der symphonischen Klangwirkung gegenüber und entwickeln wiederum neue, andere Farben. Die Komposition entstand ursprünglich als Auftragsarbeit von Neeme Järvi und wurde von ihm mit dem Detroit Symphony Orchestra uraufgeführt. Für die vorliegende Aufnahme jedoch können Tüür, Carolin und Jörg Widmann abermals auf das agile Nordic Symphony Orchestra und deren Dirigenten Anu Tali zurückgreifen. Der Klarinettist Jörg Widmann, selbst ein angesehener zeitgenössischer Komponist, gehört ebenfalls zum dauerhaften Künstlerstamm von ECM New Series und wird im kommenden Jahr mit einer eigenen Aufnahme seinen aktuellen Stand der kompositorischen Arbeit dokumentieren. Bei „Strata“ jedoch kann er seine Kompetenz als herausragender Instrumentalist ebenso wie seine Schwester Carolin im Dienste von Erkki-Sven Tüürs Klangwelt beweisen. Eine faszinierende Kombination.