Das sechste Album der ECM New Series, das der Musik des estnischen Komponisten Erkki-Sven Tüür gewidmet ist, beinhaltet zwei großformatige Werke, die vom Hessischen Rundfunk in Auftrag gegeben und vom Frankfurt Radio Symphony Orchestra uraufgeführt wurden. Beiden Werken liegt ein von Tüür als “vektoriell” bezeichnetes Kompositionsverfahren zugrunde, das er seit “Oxymoron” (2003) verwendet. Der Komponist verweist in Bezug auf die harmonische und formale Geschlossenheit seiner Werke auf variierende “Quellcodes”, die sich als Keimzellen im Verlauf von Mutations- und Wachstumsprozessen mit Knotenpunkten im Gewebe der gesamten Komposition verbinden.
Die Dramaturgie der 2009 vollendeten 7. Symphonie (“Pietas”) von Erkki-Sven Tüür beruht auf vier wellenförmigen Steigerungsbewegungen, die vom hr-Sinfonieorchester ausgeführt werden. Textfragmente, gesungen vom NDR Chor, ragen dazwischen, erratischen Blöcken gleich, hervor. Sie trennen und gliedern die gewaltige Struktur. Zugleich scheint der Chor das instrumentale Drama zu kommentieren. “Ich wollte, dass das Orchester die von heftiger Intensität bestimmte Entwicklung vorantreibt, während der Chor isolierte Textpassagen vorträgt, transparent, knapp und aphoristisch, wie aus einer ‘anderen Realität’ kommend”, erklärt Tüür.
In den Gesangstexten vermischen sich Zitate mit unterschiedlichen historischen und kulturellen Bezügen, geschrieben von Buddha, Augustinus und Persönlichkeiten der jüngeren Geschichte, wie Gandhi und Mutter Theresa. Erkki-Sven Tüür: “Wenn ich die Zeilen als geschlossenen Textkörper lese, erscheint es mir, als könnten sie ebenso gut von einer einzigen Person geschrieben worden sein. Die Schlüsselworte sind ‘compassion’ und ‘love’. So erklärt sich auch der Beiname der Symphonie. ‘Pietas’ bedeutet im Lateinischen grob übersetzt Mitgefühl.” Der Komponist widmete sein Werk dem Dalai Lama.
“Mit dem Klavierkonzert verband ich den Entschluss, mich selbst zu beschränken und jegliche avantgardistische Spieltechnik zu vermeiden. Die Musik wird auf herkömmliche Weise, allein mit den Tasten gespielt”, erklärt Erkki-Sven Tüür. “Zusätzlich wollte ich mich besonders auf die Gegenüberstellung und Verbindung des tiefsten und höchsten Registers konzentrieren.” Hans-Jürgen Linke von der Frankfurter Rundschau erkennt in dem Werk ein erbarmungsloses Ringen zwischen Orchester und Klavier: “Es ist eine energische Bewegung in dieser Musik, ein ständiges Aufnehmen, Weiterreichen, Unterbrechen, Weiterentwickeln; der Solist sucht sein Heil in extremen Lagen und wird doch immer mehr in die Mitte der Klaviatur gedrängt.”
Nicht als Virtuosenstück, so meint Linke, sondern als Stück “voller Fallen, Tücken, Verdichtungen und Schwierigkeiten, deren Bewältgung nicht die Belohnung des spektakulären Auftritts verspricht”, muss sich dieses Klavierkonzert aus Sicht des Solisten darstellen. Die finnische Pianistin Laura Mikkola meistert diese Herausforderung bravurös. Glühend, standfest und präzise nimmt sie die unablässig anbrandenen orchestralen Wellen.