Kann man heute noch ein Requiem komponieren? Klassische Totenmessen gehören zu den größten Herausforderungen an einen zeitgenössischen Komponisten. Die religiöse Tradition ist abgebrochen. Der lateinische Text versteht sich nicht mehr von selbst. Eine Menge Arbeit wartet auf den Komponisten, wenn er den Sinn der überlieferten Trostworte zu neuem Leben erwecken möchte. Indes haben viele Avantgarde-Künstler in den letzten Jahrzehnten bewiesen, dass die spirituelle Überlieferung fortlebt.
Unter günstigen Umständen dringt sie tief in unser Gefühlsleben vor. Jedenfalls haben Größen wie
Arvo Pärt,
Alfred Schnittke oder
Krystof Penderecki geistliche Werke von enormer Ausdruckskraft geschaffen. Diese Musik erreicht erstaunlicherweise auch Hörerinnen und Hörer, die nichts mit Religion zu tun haben. Allerdings ist dies kein Selbstläufer. Die Messlatte ist hoch. Der Komponist braucht eine emotionale Verbindung zur religiösen Tradition, und er steht vor der Herkulesaufgabe, die uralten Texte mit modernen Klängen zu stützen.
Spirituelle Sensibilität: Tigran Mansurian
Der armenische Meisterkomponist
Tigran Mansurian wusste von Beginn an um die Größe dieser Aufgabe. Aber er wollte sich ihr stellen: für sein Volk, für die Armenier, die während des Ersten Weltkriegs einem Genozid des Osmanischen Reiches zum Opfer fielen. Dieses Requiem ist, so der Komponist, “dem Gedenken an die Opfer des Genozids an den Armeniern, der zwischen 1915 und 1917 in der Türkei verübt wurde, gewidmet. Auch Mitglieder meiner Familie waren ganz unmittelbar davon betroffen.”
Das Requiem sollte deshalb zwingend armenische Klangkomponenten enthalten. Tigran Mansurian hegte früh schon den Verdacht, dass die armenische Kirche die geistlichen Texte anders liest als die römisch-katholische. So trete beispielsweise das “Kyrie eleison” eines Beethoven fordernder gegenüber dem Schöpfergott auf. Die spirituelle Tradition Armeniens sei dagegen wesentlich zurückhaltender. In ihr gehe es in erster Linie um das Beten.
Diskrete Rahmung: Klänge des Trostes
Hintergrund ist natürlich auch hier die tragische Nationalgeschichte Armeniens, die einen fordernden oder gar triumphalen Gestus nahezu unmöglich macht. Es überrascht daher nicht, dass Mansurians Requiem eher tastend daherkommt. Man merkt dem Werk die Vorsicht an, die spirituelle Demut, die der Komponist empfand, als er das Werk schuf.
Es ist wahrscheinlich dieser ehrliche, dieser verletzliche Ton, der das in den Jahren 2010–2011 komponierte Requiem für Sopran, Bariton, Chor und Streichorchester so tröstlich erscheinen lässt. Das spürt auch der Westeuropäer, der keine emotionale Verbindung zu Armenien hat. Man kann dieses Gefühl nachvollziehen, diese Sehnsucht nach friedlicher Ruhe, die aus dem neuen ECM-Album von Tigran Mansurian spricht.
Besonders eindringlich: das Requiem aeternam, mit dem das Album einsetzt. Der RIAS Kammerchor intoniert es überaus sanft. Dem Chor kommt hier die Rolle des Ruhepols zu, während die Solostimmen mit expressiver Anteilnahme die Trauer zum Ausdruck bringen. Der klagende Gesang von Bariton Andrew Redmond hat dramatische Dimensionen. Dagegen ist die Partie der Sopranistin Anja Petersen von klarer Stille.
Momentweise kommen die beiden Stimmen zusammen, bevor der Chor unter der diskreten Begleitung des von Alexander Liebreich dirigierten Münchener Kammerorchesters wieder seine besänftigende Rolle einnimmt. Überraschend nimmt sich in der Folge der melodische und dynamische Reichtum dieses Requiems aus. Das hätte man zu Beginn nicht erwartet. Doch bei aller Spannung kehrt diese Totenmesse immer wieder zu ihrem sanften, dem tröstenden Grundton zurück.